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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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habe den Verdacht, daß sie recht hatte, und wenn ich heute an Egg denke, stelle ich ihn mir meistens in dem Zimmer im Gasthaus Freud vor, das er nie zu sehen bekam. Egg in einer Schachtel ohne Luft und ohne Fenster, einem winzigen gefangenen Raum im Herzen eines fremden Hotels - in einem Zimmer, das für Gäste nicht taugte.
    Die typische Tyrannei von Familien: das jüngste Kind bekommt immer das schlechteste Zimmer. Egg wäre im Gasthaus Freud nicht glücklich gewesen, und ich frage mich heute, ob überhaupt einer von uns hätte glücklich sein können. Allerdings hatten wir dort auch keinen günstigen Start. Wir hatten bloß einen Tag und eine Nacht, bevor sich die Nachricht von Mutter und Egg auf uns legte, bevor Susie auch unser Blindenbär wurde und Vater und Freud ihren Pas de deux auf ein grandioses Hotel zu begannen - ein erfolgreiches Hotel war das allerwenigste, was sie sich erhofften; und wenn schon kein Klasse-Hotel, dann wenigstens ein gutes.
    Schon am Tag unserer Ankunft fingen Vater und Freud an, Pläne zu machen. Vater wollte die Prostituierten in den vierten Stock und das Symposion über Ost-West-Beziehungen in den dritten Stock verlegen und so den ersten und zweiten Stock für Gäste freimachen.
    »Warum sollten die zahlenden Gäste in den dritten und vierten Stock hoch steigen müssen?« fragte Vater Freud.
    »Die Prostituierten«, ermahnte Freud meinen Vater, »sind auch zahlende Gäste.« Er brauchte nicht hinzuzufügen, daß sie auch mehr als einmal in der Nacht die Treppe raufgingen. »Und manche Kunden sind zu alt für die vielen Stufen«, fügte Freud hinzu.
    »Wenn sie zu alt sind für die vielen Treppenstufen«, sagte Susie der Bär, »dann sind sie auch zu alt für die Schweinereien. Immer noch besser, es kratzt einer auf der Treppe ab, als daß er im Bett seinen Abgang macht - auf einem der kleineren Mädchen.«
    »Jessas Gott«, sagte Vater. »Dann geben wir eben den Prostituierten den ersten Stock. Und schicken die verdammten Radikalen nach oben.«
    »Intellektuelle«, sagte Freud, »sind für ihre schlechte körperliche Verfassung bekannt.«
    »Nicht alle von diesen Radikalen sind Intellektuelle«, sagte Susie. »Und wir sollten irgendwann auch einen Aufzug haben«, fügte sie hinzu. »Ich bin dafür, daß wir die Nutten unten lassen; sollen doch die Denker Treppen steigen.«
    »Richtig, und die Gäste kommen in die Mitte«, sagte Vater.
    »Was für Gäste?« fragte Franny. Sie und Frank hatten die Eintragungen überprüft; das Gasthaus Freud hatte keine Gäste.
    »Das war nur der Brand in der Konditorei«, sagte Freud. »Der hat die Gäste ausgeräuchert. Wenn wir erst die Lobby hergerichtet haben, werden die Gäste hereinströmen.«
    »Und die Fickerei wird sie die ganze Nacht nicht schlafen lassen, und die Schreibmaschinen werden sie morgens aufwecken«, sagte Susie der Bär.
    »So eine Art Hotel für Bohemiens«, sagte Frank optimistisch.
    »Was weißt du schon über Bohemiens, Frank?« fragte Franny.
    In Franks Zimmer stand eine Schneiderpuppe, früher einmal im Besitz einer Prostituierten, die im Hotel ein ständiges Zimmer gehabt hatte. Es war eine ziemlich kräftige Puppe, mit dem angeschlagenen Kopf einer Schaufensterpuppe obendrauf, der - wie Freud behauptete - aus einem der großen Kaufhäuser in der Kärntner Straße gestohlen worden war. Ein hübsches, aber narbenzerfressenes Gesicht mit einer schiefsitzenden Perücke.
    »Genau richtig für deine ganzen Kostümwechsel, Frank«, sagte Franny. Frank hängte mürrisch seine Jacke drüber.
    »Sehr komisch«, sagte Frank.
    Frannys Zimmer lag neben meinem. Wir hatten ein gemeinsames Bad mit einer uralten Badewanne; sie war so tief, daß man einen Ochsen darin hätte braten können. Das WC lag am Ende des Ganges, unmittelbar neben der Halle. Nur zu Vaters Zimmer gehörte ein eigenes Bad und ein eigenes WC. Wie es aussah, teilte Susie das Bad mit Franny und mir, konnte es aber nur durch eines unserer Zimmer betreten.
    »Keine Angst«, sagte Susie. »So oft wasch ich mich nicht.«
    Das wußten wir bereits. Es war nicht unbedingt ein Bärengeruch, aber es war ein herber, salziger, kräftiger und nachhaltiger Geruch, und als sie ihren Bärenkopf abnahm und wir zum erstenmal ihre dunklen, feuchten Haare sahen - ihr blasses, pockennarbiges Gesicht und ihre verstörten nervösen Augen -, fanden wir, als Bär sei sie uns doch lieber.
    »Was ihr da seht«, sagte Susie, »sind die wüsten Folgen einer Akne - das Elend meiner

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