Das Hotel New Hampshire
Rundschreiben lese ich nicht. Um ihre Politik kümmere ich mich nicht.«
»Aber was ist denn ihre Politik?« fragte Frank.
»Die Ficker wollen alles auf den Kopf stellen«, sagte Susie.
»Neu anfangen. Sie wollen reinen Tisch machen. Sie wollen wieder bei Null anfangen.«
»Ich auch«, sagte Frank. »Das hört sich vernünftig an.«
»Sie machen mir angst«, sagte Lilly. »Sie blicken glatt über dich weg; und selbst wenn sie dich direkt anblicken, sehen sie dich nicht.«
»Nun, du bist ziemlich klein«, sagte Susie der Bär. »Mich blicken sie jedenfalls oft genug an.«
»Und einer von ihnen blickt dauernd Franny an«, sagte ich.
»So meine ich das nicht«, sagte Lilly. »Ich meine, sie sehen keinen Menschen, wenn sie einen anblicken.«
»Das ist, weil sie darüber nachdenken, wie alles anders sein könnte«, sagte Frank.
»Auch die Menschen, Frank?« fragte Franny. »Glauben sie, auch die Menschen könnten anders sein? Glaubst du das?«
»Klar«, sagte Susie der Bär. »Wir könnten beispielsweise alle tot sein.«
Trauer schafft Vertrautheit; in unserer Trauer um Mutter und Egg lernten wir die Radikalen und Huren bald so gut kennen, als hätten wir sie schon immer gekannt. Wir waren die verwaisten Kinder, denen die Mutter entrissen (für die Huren) und deren goldener Bruder erschlagen worden war (für die Radikalen). Und so kam es, daß uns die Radikalen und Huren - um unsere trübe Stimmung und die trüben Zustände im Gasthaus Freud wettzumachen - recht gut behandelten. Und trotz ihrer Tag-und-Nacht-Unterschiede waren sie einander ähnlicher, als sie wohl selbst geglaubt hätten.
Sie glaubten beide an die kommerziellen Möglichkeiten eines einfachen Ideals: sie glaubten beide, sie könnten eines Tages »frei« sein. Sie glaubten beide, ihre Körper seien Objekte, leicht für eine gute Sache zu opfern (und nach dem Opfergang leicht wiederherzustellen oder zu ersetzen). Selbst ihre Namen waren ähnlich - wenn auch aus verschiedenen Gründen. Sie hatten nur Deck- oder Spitznamen, und wenn sie ihren richtigen Namen benutzten, dann nur den Vornamen.
Zwei von ihnen hießen tatsächlich gleich, aber es gab keine Verwirrung, da der Radikale ein Mann war, und außerdem waren sie nie gleichzeitig im Gasthaus Freud: der Alte Billig und die Alte Billig. Die älteste Hure wurde so genannt, weil ihre Preise für den Stadtbezirk, in dem sie anschaffte, unter der Norm lagen; die Huren in der Krugerstraße waren - auch wenn die Krugerstraße im Ersten Bezirk lag - so etwas wie eine Unterabteilung der Huren in der Kärntner Straße (gleich um die Ecke). Wenn man von der Kärntner Straße in unsere kleine Straße einbog, dann war das (im Vergleich), als steige man herab in eine Welt ohne Licht; obwohl die Kärntner Straße so nahe war, sah man nichts mehr von dem hell erleuchteten Hotel Sacher und vom strahlenden Glanz der Staatsoper, und es fiel einem auf, daß die Huren mehr Lidschatten trugen, daß ihre Knie ein wenig wacklig waren oder daß ihre Knöchel umknicken wollten (vom allzu langen Stehen) oder daß sie in der Hüfte etwas fülliger schienen - wie die Schneiderpuppe in Franks Zimmer. Und die Alte Billig war die Anführerin der Huren in der Krugerstraße.
Ihr Namensvetter bei den Radikalen war der alte Herr, der mit Freud so grimmig über den Umzug in den vierten Stock gestritten hatte. Der Alte Billig verdankte seinen Namen seinem Ruf, immer nur von der Hand in den Mund zu leben - und der Tatsache, daß er stets das gewesen war, was die anderen Radikalen einen »Radikalradikalen« nannten. Als es Bolschewiken gab, war er einer von ihnen; als sich die Namen änderten, änderte auch er seinen Namen. In jeder Bewegung stand er in der vordersten Front, aber sobald die Bewegung Amok lief oder in tödliche Schwierigkeiten geriet, fand sich der Alte Billig irgendwie in den hintersten Reihen; er rückte diskret aus dem Blickfeld und wartete auf die nächstmögliche vorderste Front. Die Idealisten unter den jüngeren Radikalen begegneten dem Alten Billig einerseits mit Mißtrauen und bewunderten andererseits seine Ausdauer - seine Fähigkeit zu überleben. Das unterschied sich kaum von der Einschätzung der Alten Billig durch ihre Kolleginnen.
Ein hohes Dienstalter ist Gegenstand der Verehrung und des Anstoßes - innerhalb und außerhalb der Gesellschaft.
Wie der Alte Billig stritt auch die Nutte dieses Namens mit Freud besonders heftig über den geplanten Umzug.
»Aber ihr kommt weiter nach unten«, sagte
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