Das Hotel New Hampshire
Freud. »Ihr werdet eine Treppe weniger zu steigen haben. In einem Hotel ohne Fahrstuhl ist der erste Stock günstiger als der zweite.«
Freuds Deutsch konnte ich folgen, aber die Antwort der Alten Billig verstand ich nicht. Frank sagte mir, sie protestiere, weil sie beim Umzug zu viele »Andenken« schleppen müsse.
»Sieh dir diesen Jungen an!« sagte Freud und suchte mit den Händen nach mir. »Sieh dir seine Muskeln an!« Freud »sah« natürlich meine Muskeln mit seinen Fingern: er kniff und boxte mich und schubste mich ungefähr in die Richtung der alten Nutte. »Fühl mal!« schrie Freud. »Er kann alle deine Andenken für dich schleppen. Wenn wir ihm einen Tag Zeit geben, schleppt er das ganze Hotel weg!«
Und von Frank erfuhr ich, was die Alte Billig sagte. »Von Muskeln hab ich genug«, sagte die Alte Billig auf Freuds Angebot, mich zu kneifen. »Muskeln verfolgen mich bis in den Schlaf«, sagte sie. »Klar kann er meine Andenken schleppen«, sagte sie. »Aber daß mir ja nichts kaputtgeht.«
Und so transportierte ich die Andenken der Alten Billig mit größter Vorsicht. Eine Sammlung Porzellanbären, die es mit Mutters Sammlung aufnehmen konnte (und nach Mutters Tod lud mich die Alte Billig einmal, als sie nicht im Dienst und nicht im Gasthaus Freud war, bei Tag zu sich ein, und ich konnte mir allein und in aller Ruhe die Bären ansehen, zur Erinnerung an Mutters Sammlung, die mit ihr zugrunde ging). Die Alte Billig mochte auch Pflanzen - und diese Pflanzen sprangen aus Töpfen, die allerlei Vögeln und anderen Tieren nachempfunden waren: Blumen, die aus Froschrücken sproßten, Farne, die sich über eine Gruppe Flamingos ausbreiteten, ein Orangenbäumchen, das aus dem Kopf eines Alligators wuchs. Die anderen Nutten hatten vor allem Garderoben und Kosmetika und Arzneien zu transportieren. Es war seltsam, wenn ich mir vorstellte, daß sie im Gasthaus Freud nur ›Nachträume‹ hatten - im Gegensatz zu Ronda Ray, die ihren ›Tagesraum‹ hatte; mir fiel auf, daß Tages- und Nachträume für ähnliche Zwecke verwendet wurden.
Wir lernten die Nutten an jenem ersten Abend kennen, als wir ihnen mit dem Umzug vom zweiten in den ersten Stock halfen. In der Krugerstraße gab es vier Nutten und die Alte Billig. Ihre Namen waren Babette, Jolanta, die Dunkle Inge und Kreisch-Annie. Babette wurde Babette genannt, weil sie die einzige war, die französisch sprach; in der Regel bekam sie die französischen Kunden (denn die Franzosen sind höchst empfindlich, wenn es darum geht, etwas anderes als Französisch zu sprechen). Babette war klein - und deshalb Lillys Lieblingsnutte - mit einem Koboldgesicht, das in der düsteren Beleuchtung der Eingangshalle im Gasthaus Freud (aus bestimmten Blickwinkeln) unangenehm an ein Nagetier erinnerte. In späteren Jahren dachte ich manchmal, daß Babette wahrscheinlich an Anorexie litt, ohne es zu wissen - keiner von uns wußte 1957, was Anorexie war. Sie trug geblümte Baumwollkleider, ausgesprochene Sommerkleider - und das nicht nur im Sommer - und sie wirkte komisch überpudert (als ob bei einer Berührung Puderwölkchen aus ihren Poren schießen würden); bei anderen Gelegenheiten hatte ihre Haut etwas Wächsernes an sich (als ob bei einer Berührung der Finger eine Delle hinterlassen würde). Lilly sagte mir einmal, Babettes Kleinheit habe in ihrem (Lillys) Heranwachsen eine wichtige Rolle gespielt, denn Babette verhalf Lilly zu der Erkenntnis, daß kleine Leute tatsächlich auch mit großen Leuten Sex haben konnten, ohne dabei ganz und gar vernichtet zu werden. So drückte das Lilly gerne aus: »Ohne ganz und gar vernichtet zu werden.«
Jolanta nannte sich Jolanta, weil das, wie sie sagte, ein polnischer Name war, und weil sie Polenwitze mochte. Sie hatte ein viereckiges Gesicht, sah stark aus und war so kräftig gebaut wie Frank (und fast ebenso linkisch); sie strahlte eine Herzlichkeit aus, die einem irgendwie falsch vorkam - so als könne sie mitten in einem dröhnenden Witz unvermittelt ein Messer aus ihrer Handtasche ziehen oder jemandem ein Weinglas ins Gesicht rammen. Sie hatte breite Schultern und schwere Brüste und war trotz ihrer stämmigen Beine nicht fett - Jolanta hatte den robusten Charme einer Bäuerin, seltsam zersetzt von der hinterhältigen Gewalttätigkeit der Großstadt; sie wirkte erotisch, aber gefährlich. In meinen ersten Tagen und Nächten im Gasthaus Freud war es die Vorstellung von ihr, zu der ich am häufigsten masturbierte - es war Jolanta,
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