Das Hotel New Hampshire
kurz.
»Der Traum ist die verkleidete Erfüllung eines unterdrückten, verdrängten Wunsches«, verkündete uns Vater beim Osteressen in Franks Wohnung in New York -Ostern 1965.
»Du zitierst schon wieder Freud, Pop«, sagte Lilly zu ihm.
»Welchen Freud?« fragte Franny aus Gewohnheit.
»Sigmund«, antwortete Frank. »Die Traumdeutung, viertes Kapitel.«
Ich hätte die Quelle auch kennen müssen, denn Frank und ich wechselten uns darin ab, Vater abends vorzulesen. Vater hatte uns gebeten, ihm den ganzen Freud vorzulesen.
»Wovon hast du denn geträumt, Pop?« fragte ihn Franny.
»Vom Arbuthnot-by-the-Sea«, sagte Vater. Seine Blindenhündin verbrachte jede Mahlzeit mit ihrem Kopf in Vaters Schoß. Immer wenn Vater nach seiner Serviette griff, legte er der Hündin einen Bissen in die wartende Schnauze, und die hob dann kurz den Kopf an, so daß Vater an seine Serviette konnte.
»Du solltest sie bei Tisch nicht füttern«, schimpfte Lilly mit Vater, aber wir alle mochten den Hund. Es war eine Deutsche Schäferhündin mit einer besonders satten goldbraunen Farbe, die das sonst vorherrschende Schwarz an vielen Stellen unterbrach und in ihrem sanften Gesicht sogar dominierte; sie hatte eine besonders lange Schnauze und hohe Backenknochen, so daß ihre Erscheinung in nichts an einen Labrador erinnerte. Vater wollte sie erst Freud nennen, aber wir fanden es schon verwirrend genug, daß wir bei allen möglichen Bemerkungen nicht wußten, welcher Freud gemeint war. Wir konnten Vater überzeugen, daß ein dritter Freud uns alle verrückt gemacht hätte.
Lilly meinte, wir sollten den Hund Jung nennen.
»Was? Nach diesem Verräter! Diesem Antisemiten!« protestierte Frank. »Wer würde je auf die Idee kommen, ein Weibchen nach Jung zu benennen?« fragte Frank. »Nur Jung selbst wäre auf so eine Idee gekommen«, sagte er empört.
Lilly regte daraufhin an, den Hund Stanhope zu nennen, weil Lilly in den vierzehnten Stock so vernarrt war; Vater gefiel zwar die Idee, seinen ersten Blindenhund nach einem Hotel zu benennen, aber er sagte, er würde ein Hotel vorziehen, das er wirklich mochte. Wir waren uns dann alle einig, daß die Hündin den Namen Sacher bekommen sollte. Immerhin war Frau Sacher eine Frau gewesen.
Sachers einzige schlechte Angewohnheit war es, daß sie Vater jedesmal, wenn er sich zum Essen hinsetzte, den Kopf in den Schoß legte, aber Vater bestärkte sie darin - so daß es eigentlich Vaters schlechte Angewohnheit war. Im übrigen war Sacher ein vorbildlicher Blindenhund. Sie verzichtete darauf, andere Tiere anzugreifen und dabei meinen Vater völlig unkontrolliert hinter sich herzuziehen; besonders schlau war sie im Umgang mit Aufzügen - mit ihrem Körper blockierte sie die Tür, so daß diese erst zugehen konnte, wenn mein Vater den Aufzug betreten oder verlassen hatte. Sacher verbellte den Türsteher des St. Moritz, doch im übrigen war sie zu Vaters Fußgängerkollegen freundlich, allenfalls ein wenig gleichgültig. Zu der Zeit war man in New York noch nicht verpflichtet, den Hundedreck selbst zu entfernen, so daß Vater diese erniedrigende Arbeit erspart blieb - sie wäre für ihn ohnehin fast unmöglich gewesen, das war ihm klar. Tatsächlich hatte Vater schon damals, als noch niemand davon sprach, Angst vor einer solchen Verordnung. »Ich meine«, sagte er, »wenn Sacher mal mitten auf die Central Park South scheißt, wie soll ich dann den Haufen finden? Es ist schlimm genug, Hundedreck auflesen zu müssen, aber wenn du nichts sehen kannst, ist das ausgesprochen mühselig. Ich werde es nicht tun!« brüllte er. »Wenn irgendein selbstgerechter Bürger auch nur versucht, mich darauf anzusprechen, wenn mir einer auch nur nahelegt, ich sei für die Schweinereien meines Hundes verantwortlich, ich glaube, dann greife ich zum Baseballschläger!« Doch vorläufig war Vater noch außer Gefahr. Und als sie später die Hundedreck-Verordnung erließen, lebten wir nicht mehr in New York. Als das Wetter besser wurde, gingen Sacher und mein Vater ohne Begleitung zwischen dem Stanhope und der Central Park South spazieren, und mein Vater nahm sich die Freiheit heraus, gegen Sachers Dreck blind zu sein.
In Franks Wohnung schlief der Hund auf dem Teppich zwischen Vaters Bett und meinem, und nachts fragte ich mich manchmal, ob ich Sacher oder Vater träumen hörte.
»Du hast also vom Arbuthnot-by-the-Sea geträumt«, sagte Franny zu Vater. »Was Neues ist das ja nicht gerade.«
»Doch«, sagte Vater. »Es war
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