Das Hotel New Hampshire
werden sie auch künftig immer nur hochheben und wieder absetzen, immer und ewig.
Und damit, könnte man meinen, war auch das erledigt. Lilly hatte ihre Bewährungsprobe mit einer richtigen Oper, einem echten Märchen, bestanden. Susie der Bär hatte die Rolle zu Ende gespielt; sie hatte ihre Bärenrolle endgültig ausgeschöpft; sie behielt das Bärenkostüm nur aus sentimentalen Gründen und zur Belustigung von Kindern - und natürlich für Halloween. Vater bekam zu Weihnachten einen Blindenhund. Es sollte für ihn der erste in einer ganzen Reihe von Blindenhunden sein. Und wenn mein Vater erst mal ein Tier hatte, mit dem er reden konnte, würde er endlich dahinterkommen, was er mit dem Rest
seines Lebens anfangen wollte.
»Hier kommt der Rest unseres Lebens«, sagte Franny mit ehrfürchtiger Rührung, wie es schien. »Der Rest unseres verfickten Lebens kann endlich losgehen«, sagte sie.
An dem Tag, als Chipper Dove aus dem Stanhope zu seiner »Firma« zurück ging, sah es so aus, als würden wir alle überleben - diejenigen, die noch übrig waren; es sah so aus, als hätten wir es geschafft. Franny war nun frei für ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen, Lilly und Frank hatten ihre selbstgewählte Laufbahn - oder die Laufbahn hatte sie gewählt, wie man so sagt. Vater brauchte nur ein wenig Zeit mit dem Teil seiner selbst, der auf Tiere horchte - um leichter zu einem Entschluß zu kommen. Ich wußte, daß ein in Österreich absolviertes Studium der amerikanischen Literatur mich für kaum etwas qualifizierte, aber was hatte ich schon anderes zu tun, als mich um meinen Vater zu kümmern - und dann und wann Gewichte zu heben für meinen Bruder und meine Schwester, wenn ihnen die Last zu schwer wurde.
Was wir alle in den vorweihnachtlichen Dekorationen, in dem ganzen Trubel um unsere Abrechnung mit Chipper Dove vergessen hatten, war jene Gestalt, die uns von Anfang an verfolgt hatte. Es war wie in jedem Märchen: gerade wenn du glaubst, aus dem Wald raus zu sein, ist der Wald einiges größer, als du angenommen hattest; gerade wenn du glaubst, aus dem Wald raus zu sein, stellt sich heraus, daß du immer noch drin bist.
Wie hatten wir nur die Lektion des Mäusekönigs so rasch vergessen können? Wie hätten wir denn den alten Hund unserer Kindheit, unseren lieben Kummer, so einfach abtun können, wie Susie, die ihr Bärenkostüm sauber zusammenlegte und sagte: »Das wär's dann. Das hätten wir hinter uns. Jetzt werden die Karten neu gemischt.«
Es gibt ein Lied, das die Wiener singen - es ist eines ihrer sogenannten Heurigenlieder, mit dem sie immer den neuen Wein feiern. Es ist bezeichnend für diese Leute, die Freud so gut verstand, daß ihre Lieder voller Todeswünsche sind. Keine Frage, der Mäusekönig selbst muß einst dieses kleine Lied gesungen haben.
Verkauft's mei G'wand, ich fahr' in Himmel.
Als Susie der Bär mit ihren Freundinnen zurück ins Village ging, verlangten Frank und Franny und Lilly und ich den guten, alten Zimmerservice und bestellten den Champagner. Während wir noch die sehr geringe Süße unserer Rache an Chipper Dove auskosteten, erschien uns unsere Kindheit wie ein klarer See - hinter uns. Wir hatten das Gefühl, von Kummer befreit zu sein. Aber einer von uns muß selbst in diesem Augenblick das Lied gesungen haben. Einer von uns summte heimlich die Melodie.
Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst !
Der Mäusekönig war tot, aber für einen von uns war der Mäusekönig nicht vergessen.
Ich bin kein Dichter. Ich war nicht mal der Schriftsteller in unserer Familie. Donald Justice sollte Lillys literarischer Held werden: er verdrängte sogar den wunderbaren Schluß des Gatsby, den Lilly uns zu oft vorlas. Donald Justice hat auf höchst überzeugende Art die Frage gestellt, die ins Herz meiner hotelerfahrenen Familie zielt:
Was wäre denn das Unheil anderes - gerade unser
eigenes Unheil -
Als etwas durch und durch Alltägliches?
Das Unheil gehört also auch auf die Liste. Denn das Unheil ist »etwas durch und durch Alltägliches«, besonders
in Familien. Kummer schwimmt obenauf, Liebe auch, und - letzten Endes - auch das Unheil. Es bleibt obenauf.
12.
Das Mäusekönig-Syndrom;
das letzte Hotel New Hampshire
Hier ist der Epilog, denn einen Epilog gibt es immer. In einer Welt, in der Liebe und Kummer obenauf schwimmen, gibt es viele Epiloge - und manche gehen immer weiter. In einer Welt, in der sich das Unheil immer wieder dazwischendrängt, sind manche Epiloge
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