Das Hotel New Hampshire
Eggs Taubheit gehörte auch seine Fähigkeit, zu wählen, wann er hören wollte und wann nicht.
Am Morgen schaute ich zu, wie er seinen Schlafanzug auszog, und stellte fest, daß er darunter voll angezogen war und in seinen Kleidern geschlafen hatte.
»Es ist immer gut, wenn man vorbereitet ist - was, Egg?« fragte ich.
»Auf was denn vorbereitet?« fragte er. »Wir haben heute keine Schule - es sind immer noch Ferien.«
»Warum hast du dich dann in deinen Kleidern ins Bett gelegt?« fragte ich ihn, aber er ging nicht darauf ein; er war damit beschäftigt, verschiedene Kostümhaufen zu durchwühlen. »Was suchst du eigentlich?« fragte ich ihn. »Du bist doch schon angezogen.« Aber sobald Egg an meinem Tonfall merkte, daß ich ihn hänseln wollte, ignorierte er mich.
»Bis später, auf der Party«, sagte er.
Egg liebte das Hotel New Hampshire, vielleicht sogar mehr, als Vater es liebte, denn Vaters Liebe galt in erster Linie der Idee dahinter; tatsächlich schien Vater von Tag zu Tag mehr am greifbaren Erfolg seines Unternehmens zu zweifeln. Egg liebte all die Räume, die Treppen, die menschenleere Weite der ehemaligen Mädchenschule. Vater wußte, daß es bei uns ein bißchen zu menschenleer war, aber Egg hatte nichts dagegen.
Gäste brachten manchmal merkwürdige Dinge, die sie in ihren Zimmern gefunden hatten, zum Frühstück mit herunter. »Das Zimmer war sehr sauber«, begannen sie, »aber irgend jemand muß dieses ... dieses Ding da vergessen haben.« Der rechte Gummiarm eines Cowboys; der runzlige, mit einer Schwimmhaut versehene Fuß einer vertrockneten Kröte. Eine Spielkarte, auf der dem Karobuben ein neues Gesicht gezeichnet worden war; die Kreuz-Fünf, auf die jemand »Puh!« geschrieben hatte. Eine kleine Socke mit sechs Murmeln drin. Ein ganzes Kostüm (Eggs Polizeimarke, an seiner Baseball-Uniform festgemacht) aus dem Schrank in 3 G.
An Silvester herrschte eine Art Tauwetter - ein leichter Nebel legte sich über den Elliot Park, und der Schnee vom Tag vorher schmolz schon wieder und brachte den acht Tage alten grauen Schnee zum Vorschein. »Wo warst du heute morgen, John-O?« fragte mich Ronda Ray, als wir das Restaurant für die Silvesterparty herrichteten.
»Es hat nicht geregnet«, erklärte ich. Eine fadenscheinige Ausrede, das war mir klar - und ihr auch. Ich war Ronda nicht etwa untreu - mit wem auch -, aber ich träumte die ganze Zeit von einer imaginären »anderen«, die etwa so alt war wie Franny. Ich hatte Franny sogar um eine Verabredung mit einer ihrer Freundinnen gebeten, die sie empfehlen konnte - obwohl Franny mir neuerdings sagte, ihre Freundinnen seien zu alt für mich; das hieß, sie waren sechzehn.
»Kein Gewichttraining heute?« fragte mich Franny. »Hast du nicht Angst um deine gute Form?«
»Ich trainiere für die Party«, sagte ich.
Für die Party rechneten wir damit, daß drei oder vier Dairy-Schüler ihre Weihnachtsferien abkürzen und die Nacht im Hotel verbringen würden, darunter auch Junior Jones, der mit Franny zur Party ging, und eine Schwester von Junior Jones, die keine Dairy-Schülerin war. Junior brachte sie für mich mit - und ich hatte Angst, Junior Jones' Schwester könnte so riesig sein wie Junior Jones selber, und ich hätte zu gern gewußt, ob es sich um die Schwester handelte, die vergewaltigt worden war, wie mir Harold Swallow erzählt hatte; es schien mir unverhältnismäßig wichtig, das zu wissen. Würde ich mit einem großen, vergewaltigten Mädchen zur Party gehen oder mit einem großen, nicht vergewaltigten Mädchen? - denn riesig war sie in jedem Fall, da war ich sicher.
»Sei nicht nervös«, sagte Franny zu mir.
Wir räumten den Weihnachtsbaum ab; Vater hatte dabei Tränen in den Augen, denn es war Iowa-Bobs Baum gewesen; Mutter mußte hinausgehen. Die Beerdigung war uns Kindern so gedämpft vorgekommen - es war die erste Beerdigung, die wir je erlebt hatten, denn wir waren zu jung, als daß wir uns hätten erinnern können, wie es bei Latein-Emeritus und der Mutter meiner Mutter zugegangen war; der Bär namens State o' Maine hatte keine Beerdigung bekommen. Ich glaube, nach dem Lärm, der Iowa-Bobs Tod begleitet hatte, erwarteten wir, daß auch die Beerdigung lauter sein würde - »wenigstens mit dem Gepolter von Hanteln«, sagte ich zu Franny.
»Sei nicht kindisch«, sagte sie. Sie glaubte offenbar, daß sie viel schneller erwachsen wurde als ich, und ich fürchtete, sie hatte recht.
»Ist es die Schwester, die vergewaltigt worden
Weitere Kostenlose Bücher