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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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unsinnigerweise nicht nur mit Ungestörtheit, sondern auch noch mit mehr Raum versorgt werden. Ich beklagte mich, aber Vater sagte, mein Einfluß würde Egg rascher »reifen« lassen. An Franks geheimer Unterkunft änderte sich nichts, und die Hanteln hatten ihren Platz nach wie vor in Iowa-Bobs Zimmer, so daß ich um so mehr Veranlassung hatte, Franny zu besuchen, die mir beim Gewichtheben gerne zusah. Nun dachte ich also bei der Gewichtarbeit nicht nur an Franny - mein ganzes Publikum! -, sondern konnte, wenn ich mir ein wenig Mühe gab, auch Coach Bob zurückholen. Ich stemmte für uns beide.
    Ich nehme an, die Aktion, mit der Egg Kummer die unvermeidliche Fahrt zur Müllhalde ersparte, war die einzige Möglichkeit für Egg, Iowa-Bob wiederauferstehen zu lassen. Wie mein Einfluß dazu beitragen konnte, daß Egg rascher »reifte«, blieb mir ein Rätsel, auch wenn es erträglich war, mit ihm das Zimmer zu teilen. Seine Kleider störten mich am meisten, oder nicht so sehr seine Kleider als vielmehr sein Umgang mit Kleidern: Egg zog sich nicht an, er kostümierte sich. Er wechselte die Kostümierung mehrmals am Tag, und die abgelegten Kleider nahmen immer einen zentralen Platz ein in unserem Zimmer und häuften sich dort an, bis dann wieder mal Mutter in unserem Zimmer wütete und mich fragte, ob ich Egg nicht dazu anhalten könne, ordentlicher zu sein. Vielleicht meinte Vater »ordentlicher werden«, wenn er »reifen« sagte.
    Während der ersten Woche, in der ich mit Egg das Zimmer teilte, war mir seine Schlamperei egal; dafür brannte ich darauf, herauszufinden, wo er Kummer versteckt hatte. Ich wollte mich nicht noch einmal von dieser Gestalt des Todes erschrecken lassen, obwohl ich glaube, daß uns der Tod in jeder Gestalt erschreckt - er soll uns erschrecken - und daß wir auch mit dem besten Vorauswissen nicht genügend darauf gefaßt sind. Jedenfalls war das bei Egg und Kummer so.
    Am Abend vor Silvester, als Iowa-Bob noch keine Woche tot und Kummer erst seit zwei Tagen aus dem Abfall verschwunden war, flüsterte ich in unserem dunklen Zimmer zu Egg hinüber; ich wußte, daß er noch nicht schlief.
    »Okay, Egg«, flüsterte ich. »Wo ist er?« Aber es war immer ein Fehler, mit Egg zu flüstern.
    »Was?« sagte Egg. Mutter und Dr. Brand sagten, Eggs Gehör werde besser, während Vater immer von Eggs »Taubheit« und nicht von seinem »Gehör« sprach und so zum Schluß kam, Dr. Brand müsse selber taub sein, wenn er glaube, Eggs Zustand werde »besser«. So ähnlich war es ja auch bei Lillys Zwergwuchs: Dr. Brand sah auch bei ihr eine Besserung, weil sie tatsächlich (ein bißchen) gewachsen war. Aber alle anderen waren sehr viel mehr gewachsen, und deshalb entstand der Eindruck, Lilly werde immer kleiner.
    »Egg«, sagte ich lauter. »Wo ist Kummer?«
    »Kummer ist tot«, sagte Egg.
    »Ich weiß, daß er tot ist, verdammt nochmal«, sagte ich, »aber wo, Egg? Wo ist Kummer?«
    »Kummer ist bei Opa Bob«, sagte Egg, der damit natürlich recht hatte, und ich wußte, es war unmöglich aus Egg herauszubekommen, wo er den ausgestopften Schrecken versteckt hielt.
    »Morgen ist Silvester«, sagte ich.
    »Wer?« sagte Egg.
    »Silvester!« sagte ich. »Wir werden eine Party feiern.«
    »Wo?« fragte er.
    »Hier«, sagte ich. »Im Hotel New Hampshire.«
    »In welchem Zimmer?« sagte er.
    »Im Hauptzimmer«, sagte ich. »Im großen Zimmer. Im Restaurant, du Dummi.«
    »In unserem Zimmer feiern wir keine Party«, sagte Egg.
    Mit Eggs Kostümen, die überall herumlagen, war in unserem Zimmer schlicht und einfach kein Platz für eine Party, das war klar, aber ich sagte nichts mehr. Als ich fast schon eingeschlafen war, fing Egg wieder an.
    »Wie würdest du etwas trocknen, das naß ist?« fragte Egg.
    Und ich stellte mir den wahrscheinlichen Zustand Kummers vor, nach weiß Gott wie vielen Stunden in der offenen Mülltonne, in Regen und Schnee.
    »Was ist naß, Egg?« fragte ich.
    »Haare«, sagte er. »Wie würdest du Haare trocknen?« »Deine Haare, Egg?«
    »Einfach Haare«, sagte Egg. »Eine Menge Haare. Mehr Haare, als ich habe.«
    »Na ja, wahrscheinlich mit einem Haartrockner«, sagte ich.
    »Mit diesem Ding, das Franny hat?« fragte Egg.
    »Mutter hat auch einen«, sagte ich ihm.
    »Schon«, sagte er, »aber der von Franny ist größer. Ich glaube, der ist auch heißer.«
    »Du hast wohl eine Menge Haare zu trocknen, was?« fragte ich ihn.
    »Was?« sagte Egg. Aber es lohnte sich nicht, die Frage zu wiederholen; zu

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