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Das Hungerjahr - Roman

Das Hungerjahr - Roman

Titel: Das Hungerjahr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aki Ollikainen
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sie dankbar dafür. Ein kleiner Wind kommt auf und weht Schnee gegen die grauen Wandbalken des Hauses. Der Schnee kriecht langsam über die Schwelle, wie um zu prüfen, ob es drinnen etwas Essbares gäbe. Wolken ziehen an der Sonne vorbei, halten jedoch nicht an, um sie zu verdecken.
    Juho hängt auf dem Rücken seiner Mutter, Mataleena stellt sich hinter ihr auf die Ski. Die Stöcke sind etwas zu lang für Marja. Die Haustür bleibt offen stehen wie Juhanis Mund. Marja verbietet Mataleena, zurückzugehen und sie zu schließen.
    »So ist es barmherziger.«
    Ein schneidender Wind fährt das Bachbett des Pajuoja entlang.
    Schneezungen flachen die steilen Ränder des Baches ab, die Weidenbüsche sind fast ganz unter Schneewehen begraben, nur wenige dunkle Spitzen schieben sich aus dem erstickenden Weiß. Vorsichtig gleitet Marja eine Schneezunge hinab. Unten verliert Mataleena das Gleichgewicht und fällt im Schnee über dem zugefrorenen Bach aufs Gesicht. Sie versucht hochzukommen, kippt aber nach hinten. Marja wagt es nicht, ihr aufzuhelfen, denn sie hat Angst, Juho könne dabei herunterfallen. Kraftlos hängt der Junge auf dem Rücken seiner Mutter, die Arme um ihren Hals geschlungen. Marja hält Mataleena einen Stock hin, damit sie Halt findet.
    Das Kind ist vollkommen erschöpft. Wäre es nicht Mataleena, sondern jemand anders, Juhani zum Beispiel, wäre es besser, ihm den Stock an die Stirn zu schlagen und ihm so den Gnadenstoß zu versetzen, denkt Marja. Aber Mataleena kommt auf die Beine und stellt sich schwankend wieder auf die Ski.
    »Ein anderer ist liegen geblieben und siecht jetzt dahin«, seufzt Marja.
    Mataleena drückt sich fest an den Rücken ihrer Mutter, und eine Weile stehen sie zu dritt auf dem Eis des Pajuoja im Schneegestöber und kommen nicht voran. Marja möchte aufgeben, sich in den Schnee fallen lassen. Doch dann sammelt sie ihre ganze Kraft und zwingt sich, weiterzugehen.
    Wütend denkt sie daran, wie Juhani sich weigerte, etwas zu essen und alles, was da war, ihr und den Kindern gab. Das war dumm, er hätte sich versorgen müssen, um die Verantwortung für seine Familie tragen zu können. Sie und die Kinder wären mit weniger ausgekommen, aber jetzt, ohne Juhani, würden sie den Winter in Korpela nicht überleben.
    Juhanis Entscheidung hatte nichts mit Edelmut zu tun; Feigheit war es gewesen.
    Bald zeichnet sich der Höhenzug namens Lehtovaara ab. Dahinter liegt der Lehto-Hof. Vom Berg aus sieht man den Kirchturm am Horizont, er ragt aus der weißen Landschaft wie einer der Weidenzweige am Bachufer.
    Mitten in der Stube des Lehto-Hofs steht ein großes Fass. Der Bauer sitzt mit gefalteten Händen am Tisch und mustert die Ankömmlinge von unten bis oben.
    »Jetzt wird also auch von Korpela aus losgezogen, um zu betteln?«
    »Für eine Nacht? Am Morgen ziehen wir weiter.«
    »Was ist mit Juhani?«
    »Nichts mehr.«
    Lehtos Blick fällt auf die eigenen Hände. Wasser tritt ihm in die Augen, er schaut aus dem Fenster, dann auf das Feuer im Kamin. Die Bäuerin kommt aus der Kammer und stürzt auf Marja zu, um sie in den Arm zu nehmen. Die Kinder schleichen schüchtern zum Fass.
    »Da ist Teer drin, damit keine Krankheiten ins Haus kommen. Der Teer hält sie fern«, sagt Lehto.
    Die Bäuerin schickt sich an, den Kindern die Überkleider auszuziehen. Als sie Mataleenas Gesicht sieht, stößt sie einen Schrei aus.
    »Großer Gott! Ich koche sofort eine Milchsuppe.«
    Der Bauer warnt davor, zu viel zu essen. Der Bauch des Hungrigen vertrage das nicht. Marja sieht sich in der Stube um. Im Vergleich zu Korpela wirkt alles sauber und rein. Das Feuer im offenen Kamin sorgt für heimeliges, warmes Licht.
    »Hat Juhani der Geist verlassen?«
    »Der Geist hat ihn schon vor Zeiten verlassen. Er ist zurückgeblieben, um zu sterben.«
    »Ihr habt ihn dort liegen lassen?«
    »Ihm fehlt die Kraft zum Weggehen wie zum Leben. Hätte ich ihn einschläfern sollen?«
    »Es heißt, irgendwo hätten sie sogar schon Tote gegessen«, mischt sich die Bäuerin ins Gespräch ein.
    Lehto bedenkt seine Frau mit einem zornigen Blick.
    »Weibergeschwätz.«
    »Der Vater wird doch nicht gegessen«, flüstert Juho.
    »Natürlich nicht. Der Vater kommt in den Himmel.«
    »Und wenn doch jemand reingeht und ihn isst?«
    »Die Tante erzählt bloß Gespenstergeschichten«, beruhigt Lehto den Jungen.
    Bald nachdem sie ihre Milchsuppe bekommen haben, schlafen Juho und Mataleena auf der Bank ein. Lehto sitzt im Schaukelstuhl und schaut

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