Das Hungerjahr - Roman
Löffel schön in die Hand, aber als er damit die Suppe löffelt, wird sein Blick glasig und alles um ihn herum verschwindet. Er ist andächtig, als vollzöge er ein heiliges Mysterium.
»Nun denn, jetzt hört und sieht er nichts mehr«, seufzt Lars, der sich für das Benehmen des Jungen ein bisschen schämt.
»Na, das ist recht«, schmunzelt der Senator und streicht sich über den Backenbart. »Man muss essen, damit man Kraft zum Lernen und zum Aufbau der Nation hat.«
Der Senator greift zum Glas und verschüttet Wein auf die Tischdecke. Im Gesicht des alten Mannes steigt Röte auf. Raakel erhebt sich flink, lässt dem peinlich berührten Senator gegenüber ein Lächeln der Nachsicht aufblitzen und schüttet mit dem Löffel Salz auf den Fleck. Der Rotweinfleck wird unter weißen Kristallen begraben, die langsam dunkler werden.
EPILOG
D ie Planken des Bootes haben nachgegeben, es hat den Winter nicht überstanden, weil die Bretter das Gewicht des Schnees nicht trugen. Eine Schellente fliegt aus ihrer Bruthöhle über das zerstörte Boot, das Knattern ihres Flügelschlags verbreitet sich über den ganzen See, bis der Wind alle Geräusche zur Stille vermischt. Die wird erst wieder vom Balzruf eines einsamen Prachttauchers gebrochen.
Der große, magere Mann steht am Wasser und lässt den Blick über die Wellen bis zum anderen Ufer schweifen. Der Wind bringt den vom Hunger und von der Krankheit ausgezehrten Körper zum Schwanken, der Mann kann sich nur mit Hilfe eines Stocks aufrecht halten. Dann lassen die langen, schmalen Finger den Stock los, er fällt im selben Moment auf die Erde, als platschend ein Hecht im Schilf rumort. Vorsichtig lässt sich der Mann auf einem Stein nieder. Er zieht die Schuhe aus, die zerrissene Jacke, das Hemd und die Hose und macht dann nackt einen Schritt ins Wasser. Es ist noch kalt, aber der Mann merkt es kaum, denn er hat die Kälte erlebt, und sie war so unfassbar groß, dass sie am Ende nichts anderes mehr gewesen ist als Leere.
Der Sommer ist gekommen. An diesen Gedanken klammert sich der Mann und hofft, er werde seine innere Leere ausfüllen, sodass nichts anderes hineinpasst. Der Prachttaucher ruft erneut. Der Mann watet tiefer hinein, und als ihm das Wasser bis an die Knie reicht, breitet er die Arme aus und kippt vornüber. Der See empfängt ihn, der Mann gerät unter die Wasseroberfläche und sinkt langsam dem Grund entgegen. Kurz denkt er, dass er nicht mehr an die Oberfläche kommen wird.
Dann fängt er an zu schwimmen.
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