Das Hungerjahr - Roman
den Mund.«
Vorsichtig reibt Mataleena ihrem Vater Schnee auf die rissigen Lippen, sie füttert ihn langsam damit, als gäbe sie einem kleinen Kind Bröckchen von Hefewecken. Aus Juhanis Mund dringt das schnurrende Röcheln einer Katze.
Marja lässt den Blick durch die Stube schweifen. Sie müssen aufbrechen, bevor der Sturm wieder einsetzt, denn danach würden sie es nicht einmal bis zum nächsten Haus schaffen, sondern noch vor dem Bach, der Pajuoja genannt wird, zusammenbrechen und allmählich unterm Schnee begraben werden. Nicht das Weggehen macht ihr Angst, sondern dass sie womöglich gezwungen sein werden, zurückzukehren. Es gilt, so weit wie möglich von diesem kleinen Pachthof namens Korpela wegzukommen. Hier gibt es nichts mehr als den Tod.
Marja pickt Juho ein Stück Stroh aus dem Mundwinkel. Das Rindenmehl ist seit einiger Zeit aufgebraucht. Flechten wagt Marja nicht ins Brot zu mischen, weil Lauri vom Pajula-Hof gestorben ist, nachdem er Flechtenbrot gegessen hatte. Das war im Spätsommer, zu einer Zeit, in der in einem anderen Jahr die Ernte eingebracht worden wäre. Der Bauer vom Lehto-Hof hat gesagt, Lauri sei an einer Vergiftung gestorben. Er hatte in der Zeitung gelesen, man müsse Flechten richtig behandeln, wenn man damit das Mehl verlängern wolle.
»Mataleena, wir müssen gehen.«
»Der Vater hat keine Kraft.«
»Wir müssen den Vater zurücklassen.«
Mataleena drückt auf dem Bauch ihres Vaters den Kopf in die Bettdecke und schluchzt. Juhani schaut Marja an und versucht, etwas zu sagen. Marja steht auf und geht zu ihm. Sie legt den Kopf schief und mustert das Gesicht ihres Mannes.
Was will er mir sagen? Wieder bringt er nur ein Röcheln zustande. Er klammert sich an Marjas Arm, und sie versucht nicht, ihn abzuschütteln, sondern sieht ihrem Mann neugierig in die Augen. Bittet er um Hilfe oder um Gnade oder ermuntert er mich, zu gehen? Versteht er überhaupt noch etwas? Sie sieht ihn lange an, kann es aber nicht herausfinden.
Sie bindet Juho ihr Kirchenkopftuch um die Ohren und schlingt noch den Schal darum. Selbst setzt sie sich Juhanis Pelzmütze auf. Sie dreht sie hin und her und beschließt am Ende, dass sie am besten falsch herum sitzt.
»Zieh dir alles über, was du findest«, weist sie Mataleena an.
Marja zieht sich indessen Juhanis schwarzen Lodenmantel über. Er sieht wie ein Beerdigungskleid aus, denn Juhani ist ein großer Mann. Er war es. Sie nimmt Juhanis Fäustlinge, gibt Mataleena ihre eigenen. Mataleenas Fäustlinge zieht sie Juho über dessen Fäustlinge.
»Wir müssen Holz für Vater holen«, sagt Mataleena.
Marja wirft einen Blick auf Juhani und geht nach draußen. Das Licht schießt in die Nasenlöcher und die Augen, es dringt unter die Kleider und kommt durch alle Öffnungen in den Körper und füllt für einen Moment die vom Hunger ausgehöhlte Leere.
Breitbeinig steht Marja da und lässt ihren ganzen Körper von der Sonne mit der kalten Luft einreiben. Dann watet sie durch Schneeverwehungen zum Stall; vielleicht fände sich dort noch etwas Brennbares. Sie mag nicht hineingehen, sondern greift nach einem Türbrett, das bereits lose zu sein scheint. Mit dem ganzen Gewicht ihres mageren Körpers zieht sie daran. Der rostige Nagel kreischt, als er sich löst, und Marja fällt auf ihren Hintern. Der weiche Schnee fängt sie auf.
Im Haus lehnt sie das Brett an die Bank und bricht es mit einem Fußtritt in zwei Teile. Mataleena streichelt mit dem Fäustling Juhanis Handrücken, Juho lehnt den Kopf an die Stirn seines Vaters. In dieser Haltung sieht der Junge rührend und drollig aus, und Marja beschleicht große Traurigkeit. Sie spürt, wie ihr Kinn zittert, aber sie hustet und spuckt das Weinen in den Ofen.
Mataleena führt ihren Bruder zur Tür, Marja drückt Juhani indessen das letzte Strohbrot in die Hand. Sie füllt den Topf mit Schnee und stellt ihn in Reichweite ihres Mannes neben das Bett.
»Mehr kann ich nicht tun«, flüstert sie.
Juhani packt ihre Schulter und versucht sich aufzurappeln, schafft es jedoch nicht. Er kann gerade noch etwas Unverständliches röcheln, bevor er wieder auf den Rücken sinkt. Marja nimmt seine Hand von ihrer Schulter und legt sie ihm auf die Brust. Sie drückt Juhani die Lippen auf die Stirn und dann überraschend auch auf die Lippen, lässt sie lange dort verweilen, atmet ein letztes Mal im selben Takt mit ihrem Mann.
Draußen wundert sich Marja, dass die Ski trotz des Mangels nicht verbrannt worden sind, aber jetzt ist
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