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Das Hungerjahr - Roman

Das Hungerjahr - Roman

Titel: Das Hungerjahr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aki Ollikainen
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atmet es von dort aus in seine Träume hinein, und dann wallen Kälte, Hunger und Müdigkeit auf, und nicht einmal der Schlaf bringt Erleichterung.
    »Es hat getreten, komm, fühl mal!«
    Teo legt Saara die Hand auf den Bauch. Das Kind tritt erneut.
    Vielleicht sehnt es sich schon nach der Freiheit, die es außerhalb der Gebärmutter zu finden glaubt, denkt Teo, vielleicht will es sich von der Fessel lösen, mit der es an seine Mutter gebunden ist. Wer flüstert ihm zu, dass es keine wirkliche Freiheit gibt? Je näher wir an sie heranrutschen, desto hitziger greifen wir nach all den Fesseln, die wir in die Hände bekommen. Wir rennen Irrlichtern nach, ein jeder von seinen eigenen Zwängen getrieben. Die Länge der Fesseln zeigt uns die Grenzen der Freiheit auf, nur wer sich in sein Los fügt, kann leben, ohne sich um die Fesseln zu kümmern. Die schwersten von allen Fesseln sind unsere Begierden. Wer sie abtötet, muss nicht mehr daran zerren.

DER SENATOR
    E r ist ein wenig in sich zusammengesunken, als laste die schwere Bürde der Verantwortung noch immer auf seinen Schultern. Der Senator schaut auf Lars Renqvist, der die Tür geöffnet hat, und fragt sich, ob sein treuer Mitarbeiter sich schuldig fühlt, weil er größer und aufrechter wirkt als er.
    Die Haltung wird aber gerader, als der Senator im Sessel Platz nimmt.
    »Die Eisenbahn ist auf dem Weg, zur zerstörerischen Nothilfebaustelle zu werden, ganz wie ich es vorausgesagt habe«, seufzt er.
    Der Hauch eines kleinen, hochmütigen Lächelns drängt unweigerlich in die Mundwinkel, und der Senator bemerkt, dass ein ähnliches Lächeln im Gesicht von Renqvist aufscheint, wo es jedoch bald erlischt, und in dem Moment denkt auch der Senator an die Zahl der Toten, die in die Tausende geht. Hunger und Seuchen verrichten in der großen Menschenmenge ihr Werk.
    Und doch merkt eine gedämpfte, aber nachdrückliche Stimme in seinem Kopf an, dass die Eisenbahn einen Fortschritt für dieses Land der vom Frost geplagten Ackerparzellen bedeutet. Sie ist etwas Bleibendes, auf das sich eine Entwicklung in Richtung Industrie und Kapitalismus gründen lässt. Etwas Größeres als die Handarbeitswerkstätten, die er selbst betrieben hat. Aber der alte Schulmeister in ihm haut mit der Faust auf den Tisch, bringt solche Reden zum Schweigen und schickt die Stimme zum Schämen in die Ecke.
    »In menschlicher Hinsicht kommt sie uns zu teuer zu stehen«, stimmt Renqvist zu.
    »Und nicht nur in menschlicher Hinsicht. Wir können das Glück des einzelnen Menschen nicht vor die Zukunft der Nation stellen. Aber die Kredite – der Staatshaushalt hält das nicht aus. Die werden wir noch lange abbezahlen.«
    Der Senator schließt die Augen und seufzt tief.
    »Sagen Sie, Renqvist, halten Sie mich für einen kalten Menschen?«
    »Nein, absolut nein. Sie sind ein Mann mit Weitblick. Führung verlangt einen festen Charakter, und den gibt es im Senat nur bei Ihnen.«
    »Eben. Ob ich nun von Wölfen oder von Schafen umgeben bin, das weiß ich nicht. Andere Möglichkeiten der Haushaltsführung hat es nicht gegeben. Niemand hat eine solche Zerstörung voraussagen können. Wäre ich jetzt in der gleichen Lage wie vor einem Jahr, würde ich nichts anders machen«, sagt der Senator.
    Und doch empfindet er Schuld. Sie kommt jede Nacht in seine Träume, und er befürchtet, dass sie ihm bis ins Grab folgen wird. Jede Nacht schleppt sich derselbe Lumpenkerl eine verschneite Straße entlang, und er erkennt in ihm das zurückliegende Jahr.
    Die Tür zum Wohnzimmer geht auf, und Raakel kommt mit einem kleinen Jungen an der Hand herein. Durchs Fenster fallen die Strahlen der Maisonne und erleuchten eine Hälfte des zerfurchten Gesichts des Senators, als er sich zu den Ankömmlingen umdreht. Sein Gesichtsausdruck wird freundlicher.
    »Aha, das ist also mein Namensvetter.«
    »Ja, unser Johan.«
    Der Junge trägt einen Matrosenanzug. Er würde gut zu einem Kind mit Engelslocken passen, aber dieser Junge hat dünne, glatte Haare, und die Kleidung kann seine ländliche Herkunft nicht kaschieren. Er hat jedoch gelernt, seinen Anzug zu tragen. Man sieht noch die dunklen Ringe um die Augen, die er hatte, als er zu den Renqvists kam, aber nur noch als matte Schatten. Die von Natur aus blasse Haut hat ein wenig an Blutfülle gewonnen, und in die kleinen Augen ist neben dem traurigen Ernst eine neue Wärme getreten.
    Der Tisch ist gedeckt. Johan bedankt sich, als man ihm einen Porzellanteller hinstellt. Er nimmt den

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