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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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konnte. Seine Kiefer waren gelähmt, er war unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Man hatte ihn in Sainte-Anne eingeliefert und in einem Gebäude untergebracht, in dem ausschließlich Leute mit Kriegstrauma lagen. Es war einer jener Orte, in dem die Flure voll sind von Seufzern, in dem man sein Frühstück nicht beenden kann, ohne dass man vom Erbrochenen seiner Tischnachbarn bespritzt wird.
    Eingemauert in sein Schweigen, lebte Schiffer in tiefer Angst. In den Gärten verlor er die Orientierung, wusste nicht mehr, wo er war, und fragte sich, ob die anderen Patienten vielleicht Gefangene seien, die er gefoltert hatte. Wenn er durch den Gang des Gebäudes lief, schlich er dicht an der Mauer entlang, um, wie er sich ausdrückte, »nicht von seinen Opfern gesehen zu werden«.
    Nachts lösten Albträume seine Halluzinationen ab. Ihm träumte von nackten Männern auf Stühlen, deren Blut herausfloss, oder von durch Elektroschocks verbrannten Hoden; von Kiefern, die am Email von Waschbecken zerbrachen, von blutenden Nasen, von Spritzeneinstichen. All das waren nicht etwa Visionen, sondern Erinnerungen. Er sah vor allem immer wieder den an den Füßen aufgehängten Mann, dem er mit einem Fußtritt den Schädel zertrümmert hatte. Oft wachte er schweißgebadet auf und sah sich selbst, von Hirnmasse bespritzt. Er durchsuchte das Innere seines Zimmers und sah um sich herum die glatten Wände eines Kellers, die gerade eingebaute Badewanne und auf dem Tisch in der Mitte die berühmte Elektrode, die zum Foltern im Badewasser benutzt wurde.
    Die Arzte hatten ihm erklärt, es sei unmöglich, solche Erinnerungen beiseite zu schieben. Sie rieten ihm deshalb, sich ihnen zu stellen und sich jeden Tag bewusst eine Weile mit ihnen zu beschäftigen. Eine solche Strategie passte zu seinem Charakter. Er hatte sich im Kampfgebiet nicht gedrückt, und er würde auch jetzt, in diesem Garten voller Gespenster, nicht schwach werden.
    Er unterschrieb den Entlassungsschein und stürzte sich ins Leben eines Zivilisten.
    Er bewarb sich um eine Stelle bei der Polizei, verschwieg seinen Aufenthalt in der Psychiatrie, brachte seinen Dienstgrad ins Spiel und legte seine militärischen Auszeichnungen vor. Das politische Umfeld war günstig für ihn. Die Organisation de l'Armée Secrète (OAS), eine berüchtigte Geheimorganisation von Anhängern des »französischen Algeriens«, verübte in Paris immer mehr Attentate. Es fehlten Leute, um die Terroristen zu jagen. Es gab zu wenig Spürnasen, um das Terrain zu sondieren ... Und davon verstand er etwas. Sein Gefühl für die Straße hatte Erfolge gebracht, seine Methoden ebenfalls. Er arbeitete immer allein und ohne fremde Hilfe und tat alles, um seine Ziele zu erreichen. Wobei er auch zu brutalen Mitteln griff.
    Seine Existenz entsprach fortan genau diesem Bild. Er setzte sich mit seiner ganzen Person ein, verließ sich dabei nur auf sich selbst. Er wollte über dem Gesetz und über den Menschen stehen, wollte sein eigenes und einziges Gesetz sein. Sein Recht, Gerechtigkeit zu üben, gründete sich allein auf seinen Willen. Es war eine Art kosmischer Pakt: sein Wort gegen alle Missstände der Welt.
    »Was wollen Sie?«
    Die Stimme schreckte ihn auf. Er erhob sich und betrachtete den Neuankömmling. Jean-François Hirsch war über einen Meter achtzig groß und schlank. Er hatte lange Arme und kräftige Hände. Zwei Gegengewichte zu seiner lang gezogenen Gestalt, dachte Schiffer. Er hatte ein schönes Gesicht und braunes lockiges Haar, das die Ausgewogenheit seiner Erscheinung vollendete ... Er trug keinen Kittel, sondern einen Lodenmantel, und offenbar war er gerade auf dem Sprung.
    Schiffer nannte seinen Namen und wies seine Marke vor: »Jean-Louis Schiffer. Ich habe ein paar Fragen an Sie. Es dauert nur ein paar Minuten.«
    »Ich wollte die Station gerade verlassen. Ich bin schon spät dran. Kann das nicht bis morgen warten?«
    Auch die Stimme bildete ein Gegengewicht. Eine tiefe, dunkle, feste Stimme.
    »Tut mir Leid«, sagte der Polizist. »Die Sache ist wichtig.«
    Der Arzt musterte seinen Gesprächspartner. Der Geruch nach Minze stand zwischen ihnen wie eine Wand aus Frische. Hirsch seufzte und setzte sich auf einen der festgeschraubten Sitze: »Worum geht es?«
    Schiffer blieb stehen. »Um eine türkische Arbeiterin, die Sie am vierzehnten November 2001 morgens untersucht haben. Kollege Christophe Bouvanier hatte sie hergebracht.«
    »Und?«
    »Es hat, wie es scheint, bei dieser Sache

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