Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
überlassen war und die Patienten frei herumlaufen ließ, amüsierte Schiffer. Er stellte sich bereits ein Schiff voller Wahnsinniger vor, allgemeine Unordnung, in der für eine Nacht die Kranken den Platz der Ärzte eingenommen hatten. Als er dann weiter in das Gelände vordrang, sah er jedoch nur eine verlassene Geisterstadt vor sich.
    Er folgte den roten Schildern Richtung »Notaufnahme Neurologie« und »Neurochirurgie« und sah sich im Vorbeigehen die Namen der Wege an. Er war gerade in die Allee Guy-de-Maupassant eingebogen und kam jetzt zum Edgar-Allen-Poe-Pfad. Konnte es sich um eine Form des Humors auf Seiten der Krankenhausgesellschaft handeln? Maupassant war vor seinem Tod wahnsinnig geworden, und der Autor der Schwarzen Katze, ein Alkoholiker, war, bevor er starb, wohl auch nicht ganz klar im Kopf gewesen. In kommunistischen Orten hießen die Straßen nach Karl Marx oder Pablo Neruda. In Sainte-Anne trugen sie die Namen berühmter Irrer.
    Schiffer lachte in sich hinein, bemüht, seine gewohnte Rolle als resoluter Bulle zu spielen, doch er spürte allmählich, wie ihn Angst überkam. Zu viele Erinnerungen, zu viele Verletzungen verbargen sich hinter diesen...
    In einem der Gebäude war er nach seiner Zeit in Algerien gelandet, kaum zwanzig Jahre alt. Kriegsneurose. Er hatte mehrere Monate auf der geschlossenen Abteilung verbracht, von Halluzinationen und Suizidgedanken gequält. Andere aus derselben Abteilung beim Geheimdienst in Algier hatten weniger Geduld gehabt. Er erinnerte sich an einen jungen Kerl aus Lille, der sich, sobald er wieder zu Hause war, erhängte. Und an einen Bretonen, der sich auf dem elterlichen Bauernhof mit der Axt die rechte Hand abhackte - die Hand, die Elektroden angesetzt und Nacken in Badewannen gedrückt hatte.
    Die Halle der Ambulanz, ein großer leerer quadratischer Raum mit granatapfelroten Bodenfliesen, war menschenleer. Schiffer drückte auf den Klingelknopf, dann sah er, wie eine altmodische Schwester auf ihn zukam: weiter, an der Taille gegürteter Kittel, Haarknoten, Bifokalbrille. Die Frau zuckte zurück, als sie seinen zerlumpten Aufzug sah, doch er zeigte mit einer schnellen Armbewegung seine Dienstmarke vor und nannte den Grund seines Kommens. Wortlos machte sich die Schwester auf den Weg, um Doktor Jean-François Hirsch zu suchen.
    Er setzte sich auf einen der an der Wand befestigten Sitze. Ihm schien plötzlich, als verdüsterten sich die gekachelten Wände. Trotz aller Anstrengung gelang es ihm nicht, die Erinnerungen einzudämmen, die tief aus seinem Unterbewusstsein nach oben drangen.
     
    1960
    Als er in Algier gelandet war, um Agent beim Nachrichtendienst zu werden, hatte er weder versucht, sich zu drücken, noch die Grausamkeit der Arbeit durch Alkohol oder Tabletten aus der Krankenstation zu mildern. Im Gegenteil: Er machte seine Arbeit gründlich, Tag und Nacht, und redete sich ein, er habe weiterhin sein Leben selbst in der Hand. Der Krieg hatte ihn gedrängt, seine Wahl zu treffen, genauer: sein Lager zu wählen. Er konnte die Entscheidung nicht rückgängig machen und auch nicht mehr zurückschauen. Und er konnte nicht Unrecht haben. Entweder das oder Schluss machen.
    Er hatte Tag und Nacht algerische Partisanen gefoltert und ihnen Geständnisse entrissen. Zuerst nach den üblichen Verfahren: Schläge, Elektroschocks, Badewanne. Dann hatte er eigene Techniken ausprobiert. Er hatte vorgetäuschte Exekutionen organisiert, bei denen die Gefangenen mit verhülltem Kopf aus der Stadt gefahren wurden, hatte zugesehen, wie sie vor Angst in die Hose machten, wenn er ihnen seine Waffe gegen die Schläfe hielt. Er hatte Cocktails aus Säure gemixt, die er sie zu trinken zwang, mit einem Trichter, der ihnen in der Kehle steckte. Er hatte im Krankenhaus medizinische Geräte gestohlen, um neue Methoden zu entwickeln. So benutzte er eine Magenpumpe, um Menschen Wasser in die Nasenhöhle zu spritzen.
    Er modellierte die Angst, schnitzte daran, gab ihr immer kräftigere Formen. Als er beschlossen hatte, Gefangenen Blut abzuzapfen, um sie zu schwächen und um ihr Blut den Opfern von Attentaten zu geben, hatte er sich seltsam berauscht gefühlt. Er hatte gespürt, wie er zum Gott wurde, über Leben und Tod von Menschen entschied. Manchmal lachte er im Verhörraum allein vor sich hin, von seiner Macht geblendet, und betrachtete verzückt das Blut auf seinen Händen, das aussah wie Lack.
    Einen Monat später war er nach Frankreich zurückgekehrt, da er nicht mehr sprechen

Weitere Kostenlose Bücher