Das Imperium der Woelfe
Gurdilek. Sie waren in die Werkstatt eingedrungen und hatten die erste Frau, die dem Foto entsprach, entführt. Zeynep Tütengil. Aber sie hatten sich vertan: Die Rothaarige, die echte, hatte Vorkehrungen getroffen und sich die Haare schwarz gefärbt.
Ihm kam noch ein weiterer Gedanke. Er zog das Phantombild aus der Tasche: »Sah das Mädchen so aus?«
Der Mann beugte sich über das Bild: »Kein bisschen. Warum fragen Sie?«
Wortlos steckte Schiffer das Foto ein.
Wieder eine Erleuchtung, ein weiterer Beleg, denn Sema Gokalp, oder die Frau, die sich hinter diesem Namen verbarg, hatte sich über das Färben der Haare hinaus verwandelt. Sie hatte ihr Gesicht verändern lassen. Mithilfe ästhetischer Chirurgie. Eine übliche Methode bei Leuten, die für immer abtauchen wollen. Vor allem im kriminellen Milieu. Da war sie also in die Rolle einer Arbeiterin ohne Namen tief unten im Dampf der Porte bleue geschlüpft! Warum aber war sie in Paris geblieben?
Ein paar Sekunden lang versuchte er, sich in die Lage der Türkin zu versetzen. Als sie in der Nacht des dreizehnten November gesehen hatte, wie die Grauen Wölfe mit Strumpfmasken in die Werkstatt eindrangen, hatte sie gedacht, jetzt sei ihr Ende gekommen. Doch die Mörder hatten sich auf die Arbeiterin neben ihr gestürzt. Eine Rothaarige, die so aussah wie sie früher. Die Frau war starkem Stress ausgesetzt - und das war noch schwach ausgedrückt.
»Was hat sie sonst noch erzählt?«, fragte Schiffer weiter. »Versuchen Sie sich zu erinnern.«
»Ich glaube...« Er streckte die Beine aus und band seine Schnürbänder fester. »Ich glaube, sie redete von einer seltsamen Nacht. Einer besonderen Nacht, in der vier Monde schienen. Sie sprach auch von einem Mann im schwarzen Mantel.«
Wenn er einen letzten Beweis gebraucht hatte, dann war es das. Die vier Monde. Die Türken, die die Bedeutung dieses Symbols verstanden, konnte man an einer Hand abzählen. Die Wahrheit lag jenseits des Vorstellbaren.
In diesem Moment begriff er, wer diese Beute war.
Und warum die türkische Mafia die Wölfe auf sie gehetzt hatte.
»Kommen wir auf die Polizisten vom nächsten Morgen zu sprechen«, sagte er und versuchte, seine Erregung zu verbergen. »Was haben sie gesagt, als sie sie mitnahmen?«
»Nichts. Sie haben nur ihre Genehmigung vorgezeigt.«
»Wie sahen sie aus?«
»Es waren Kolosse. In Designer-Anzügen. Wie Leibwächter sie tragen.«
Die Zerberusse von Philippe Charlier. Wo hatten sie die Frau hingebracht? In ein Gefängnis? Hatten sie sie in ihr Land zurückgeschickt? Wusste die Anti-Terror-Abteilung, wer Sema Gokalp wirklich war? Nein. Von dieser Seite gab es keine Gefahr. Hinter dieser Entführung und diesem Geheimnis steckte etwas anderes.
Er grüßte den Arzt zum Abschied, schritt über die granatfarbenen Fliesen und sah sich auf der Schwelle noch einmal um.
»Vorausgesetzt, Sema wäre noch in Paris. Wo würden Sie nach ihr suchen?«
»In einem Irrenhaus.«
»Sie hatte doch inzwischen Zeit, sich von ihrem Zustand zu erholen, oder?«
Doktor Hirsch wurde deutlicher: »Ich habe mich undeutlich ausgedrückt. Diese Frau hatte nicht einfach nur Angst, ihr war der Terror in Person begegnet. Sie hatte die Schwelle dessen, was ein Mensch ertragen kann, überschritten.«
Kapitel 46
Das Büro von Philippe Charlier befand sich in der Rue du Faubourg-Saint-Honoré, unweit des Innenministeriums. Die scheinbar ruhigen, nur wenige Schritte von den Champs-Elysées entfernten zusammenhängenden Gebäude waren in Wirklichkeit unter höchster Bewachung stehende Bunker. Dependancen der Pariser Polizeigewalt.
Jean-Louis Schiffer ließ das Portal hinter sich und durchquerte den Park, ein großes Quadrat aus grauen Kieseln, so sauber und klar gegliedert wie ein Zen-Garten. Streng geschnittene Ligusterhecken bildeten unentwirrbare Mauern, Bäume hoben ihre verkümmerten Zweige wie Stümpfe in die Höhe. Dies war keine Kampfzone, sondern ein Ort der Lüge, dachte Schiffer, während er über den Kies schlurfte.
Das hintere Ende des Parks dominierte eine schiefergedeckte Villa, die vorgelagerte, verglaste Veranda wurde von schwarz gestrichenen Metallsäulen gestützt. Darüber ragte die weiße Fassade mit Gesimsen, Baikonen und steinernen Verzierungen in den Himmel. Empire-Stil, sagte sich Schiffer, als er die gekreuzten Lorbeerzweige an den runden Amphoren in den Nischen sah. Genau genommen waren für ihn alle Bauwerke, die das Stadium der Zinnen und Wehrtürme hinter sich
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