Das Imperium der Woelfe
in der Tiefe des Meeres.
»Und Sie?«, fragte Nerteaux.
»Ich kümmere mich um die zweite Fährte. Die Typen von Charlier haben vergessen, die alten Kleider von Sema zu vernichten. Das ist ein Glücksfall, denn womöglich findet sich in den Kleidern etwas, ein kleiner Hinweis, der uns zu der ursprünglichen Frau führen kann.«
Er sah auf die Uhr: Mitternacht. Die Zeit verging wie im Flug, doch er wollte noch eine letzte Sache wissen. »Gibt es bei dir was Neues?«
»Im türkischen Viertel geht es drunter und drüber... «
»Haben die Nachforschungen von Naubrel und Matkowska etwas ergeben?«
»Bisher noch nichts.«
Nerteaux schien die Frage zu überraschen. Der Junge musste glauben, dass er sich nicht dafür interessierte, die Idee mit den Überdruckkammern weiter zu verfolgen. Doch er hatte Unrecht, die Geschichte mit dem Stickstoff im Blut hatte ihn von Anfang an irritiert.
Als Scarbon davon anfing, hatte er gesagt: »Ich bin kein Taucher.« Aber er, Schiffer, war einer. Er hatte in seiner Jugend Jahre damit verbracht, die Tiefen des Roten und des Chinesischen Meeres zu erforschen. Er hatte sogar daran gedacht, alles hinzuwerfen und am Pazifik eine Tauchschule zu eröffnen. Er wusste also, dass durch Überdruck nicht nur Stickstoff in den Blutkreislauf gelangt, sondern dass auch Halluzinationen entstehen, ein Zustand, der Wahnideen hervorruft und den alle Taucher unter dem Namen Tiefenrausch kennen.
Zu Beginn der Ermittlungen, als sie noch glaubten, sie hätten es mit einem Serienmörder zu tun, hatte Schiffer mit diesem Hinweis nichts anfangen können. Er sah nicht ein, warum ein Mörder, der in der Lage war, mit Rasierklingen in einer Vagina herumzustochern, einen solchen Aufwand treiben sollte, um Stickstoffbläschen in den Blutkreislauf seiner Opfer zu bringen. Das passte einfach nicht zusammen. Doch wenn man jemanden ausfragen wollte, konnte die Taucherkrankheit einen bestimmten Zweck erfüllen.
Zu den Grundlagen der Folter gehört es, den Gefangenen abwechselnd mit Kälte und Hitze zu traktieren. Ihm zuerst Ohrfeigen und hinterher eine Zigarette zu geben, ihm Stromstöße zu verpassen und hinterher ein Sandwich hinzustellen. In den Augenblicken der Ruhepausen brechen Menschen am häufigsten zusammen.
Mit der Überdruckkammer hatten die Wölfe nichts anderes getan, als eben diesen Kontrast herzustellen, ihn auf die Spitze zu treiben. Nach den schlimmsten Qualen hatten sie ihr Opfer einer plötzlichen Entspannung überlassen, einer Euphorie, die durch den Überdruck ausgelöst wurde. Sie hofften vermutlich, dass sie durch dieses heftige Wechselbad ihre Gefangenen zum Nachgeben bringen würden oder dass sie im Zustand des Deliriums die Wahrheit sagten...
Hinter dieser albtraumhaften Technik vermutete Schiffer das strenge, unnachgiebige Ritual eines Zeremonienmeisters und kunstfertigen Folterers. Wer?
Er kämpfte gegen seine eigene Angst und sagte zwischen den Zähnen: »Überdruckkammern dürfte es in Paris nicht allzu häufig geben.«
»Die beiden finden nichts. Sie haben Orte besucht, an denen solche Maschinen eingesetzt werden. Sie haben Unternehmer befragt, die Belastungstests durchführen. Eine Sackgasse.«
Schiffer hörte Betrübnis aus Nerteaux' Stimme. Verbarg er etwas vor ihm? Er hatte keine Zeit, sich damit aufzuhalten.
»Und die antiken Masken?«, fragte er weiter.
»Interessieren die Sie auch?«
Pauls Skepsis nahm zu.
»Im Gesamtzusammenhang interessiert mich alles«, gab Schiffer zurück. »Einer der Wölfe hat vielleicht eine Obsession, einen besonderen Spleen. Bist du damit weitergekommen?«
»Überhaupt nicht. Ich hatte keine Zeit. Ich weiß nicht mal, ob mein Typ noch andere Orte gefunden hat und... «
Schiffer schnitt ihm das Wort ab und sagte abschließend: »In zwei Stunden machen wir Lagebesprechung. Und sieh zu, dass du dein Handy auflädst!«
Er legte auf. Blitzartig erschien Nerteaux' Gestalt vor seinen Augen. Haare wie ein Indianer, Augen wie gebrannte Mandeln. Ein Bulle mit feinen Zügen, der sich nicht rasierte und Schwarz trug, um hart zu wirken. Und doch war er der geborene Polizist, trotz seiner Naivität.
Ihm wurde klar, dass er den Jungen mochte. Und doch fragte er sich, ob er nicht zu offen gewesen, ob es richtig gewesen war, ihn in seine Ermittlungen, denn das waren sie ja inzwischen, einzuweihen. Hatte er ihm zu viel erzählt?
Er verließ die Telefonzelle und winkte ein Taxi herbei. Nein, er hatte den wichtigsten Trumpf für sich behalten. Er hatte
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