Das Imperium der Woelfe
den Augen der Mehrheit rangiert »Eisen« eindeutig vor »Zahl«, denn Schiffer ist ein Held, ein Garant der öffentlichen Ordnung. Seine dienstlichen Leistungen sind außerordentlich.
Und doch hätte ihn um ein Haar ein unschöner Vorfall im Oktober 2000 zur Strecke gebracht, als die Leiche des illegal eingewanderten Türken Gazil Hemet auf den Gleisen der Gare du Nord gefunden wird. Am Vorabend ist Hemet, der des Drogenschmuggels verdächtigt wird, von Schiffer eigenhändig verhaftet worden. Als der Polizist beschuldigt wird, Gewalt an dem Mann verübt zu haben, verteidigt er sich damit, er habe den Verdächtigen vor Ablauf des Arrestes freigelassen - für ihn sehr untypisch.
Ist Hemet von seiner Hand gestorben? Die Autopsie bringt kein klares Ergebnis, denn der Körper wurde vom Thalys, einem Schnellzug, der zehn nach acht den Bahnhof verlässt, zerfetzt. Ein gerichtsmedizinisches Gegengutachten spricht von seltsamen Verletzungen an der Leiche des Türken, ein Hinweis auf Folterungen, die Schiffer eine Zukunft im Gefängnis bescheren würden.
Im April 2001 jedoch verzichtet die Anklagebehörde erneut auf eine gerichtliche Verfolgung. Was ist geschehen? Wer hat Jean-Louis Schiffer protegiert? Paul hatte die Beamten der Dienstaufsicht befragt, die mit der Untersuchung betraut waren. Die Typen hatten ihm keine Auskunft geben wollen. Diese Geschichte widerte sie an, umso mehr als Schiffer sie ein paar Wochen später zu seinem Ausstand eingeladen hatte. Ein korruptes Schwein mit einer Riesenklappe. Und diesem üblen Typ würde Paul gleich gegenüberstehen.
Die Ausfahrt nach Amiens holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er verließ die Autobahn und nahm die Nationalstraße. Nur wenige Kilometer bis zum Schild nach Longères.
Paul bog auf die Landstraße ab, erreichte bald das Dorf, durchfuhr es, ohne das Tempo zu drosseln, und stieß auf eine neue Straße, die in ein regenfeuchtes Tal hinabführte. Als er an dem hohen, vom Regen glänzenden Gras entlangfuhr, hatte er eine Art Erleuchtung: Jetzt wusste er, warum er auf dem Weg zu Jean-Louis Schiffer an seinen Vater gedacht hatte.
Auf seine Weise war Schiffer der Vater aller Polizisten. Einerseits Held, andererseits Dämon, der das Beste und Schlimmste zugleich verkörperte, Strenge und Korruptheit, Gut und Böse. Eine Gründerfigur, die ein großes Ganzes geschaffen hatte, das Paul wider Willen bewunderte, wie er seinen gewalttätigen und alkoholabhängigen Vater trotz allen Hasses stets bewundert hatte.
Kapitel 8
Als Paul das gesuchte Gebäude entdeckte, konnte er sich kaum das Lachen verbeißen. Das Altersheim für Polizeibeamte von Longères sah - hohe Mauern, zwei wachturmartige Glockentürme - einem Gefängnis zum Verwechseln ähnlich. Auf der anderen Seite der Mauer war die Ähnlichkeit noch frappanter. Der Hof war von drei in Hufeisenform angeordneten Wohnblocks eingefasst, durchbrochen von Galerien mit schwarzen Arkaden. Ein paar Männer trotzten dem Regen und spielten Pétanque, ihre Trainingsanzüge würden in jedem Gefängnis der Welt als Häftlingskleidung durchgehen, und ganz in der Nähe mimten drei Polizisten in Uniform, wahrscheinlich besuchten sie einen Verwandten, perfekt die Rolle der Aufseher.
Paul genoss die Ironie der Situation. Das Pflegeheim von Longères wurde von der Rentenkasse der Polizei finanziert und war das größte Polizisten-Altersheim des Landes, in dem ehemalige Angehörige des einfachen und höheren Dienstes aufgenommen wurden, sofern sie »keine psychosomatischen Leiden aufwiesen, die auf Missbrauch von Äthyl zurückzuführen« waren. Für Paul war der gepriesene friedliche Hafen mit den von Mauern umgebenen Grünflächen und seiner männlichen Bewohnerschaft nichts anderes als ein ganz gewöhnliches Gefängnis. Zurück an den Absender, dachte er.
Paul erreichte den Eingang zum Hauptgebäude, stieß die Glastür auf und passierte eine düstere, viereckige Eingangshalle, die zu einer Treppe führte, die durch ein Oberlicht aus trübem Glas spärlich beleuchtet wurde. Hier herrschte die stickige Wärme eines Terrariums, der Geruch nach Medikamenten und Urin hing in der Luft.
Er ging auf die Pendeltür zu seiner Linken zu, durch die ein heftiger Küchengeruch drang. Es war Mittag. Die Pensionäre waren sicher gerade beim Essen.
Er entdeckte einen Speisesaal mit gelben Wänden und einem Boden aus blutrotem Linoleum. Lange Edelstahltische waren aneinander gereiht; Teller und Bestecke waren sorgfältig aufgedeckt,
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