Das Imperium der Woelfe
dampfende Suppenschüsseln standen darauf. Alles schien an seinem Platz, doch der Saal war menschenleer.
Aus dem Nachbarraum drang Lärm. Paul ging dem Geräusch nach und spürte, wie sich seine Sohlen in den weichen Boden drückten. Jede Kleinigkeit verstärkte den Eindruck einer umgreifenden Betäubung; jeder weitere Schritt ließ einen merklich altern.
Er übertrat die Schwelle. Dreißig Rentner in unförmigen Jogging-Anzügen drehten ihm den Rücken zu, sie stierten auf einen Fernsehschirm: »Kleines Glück hat gerade Bartok überholt.« Pferde galoppierten über den Bildschirm.
Paul kam näher, im angrenzenden Zimmer, zu seiner Linken, sah er einen einsamen alten Mann. Instinktiv reckte Paul den Hals, um ihn besser betrachten zu können. Er saß gebeugt und schlaff über seinem Teller, die Spitze seiner Gabel liebkoste ein Steak.
Paul musste sich den Tatsachen stellen: Dieses Wrack war der Mann, den er suchte. Chiffre und Fer, Zahl und Eisen. Der Polizist mit den 239 Festnahmen.
Während er den Raum betrat, bellte der Reporter in seinem Rücken: »Kleines Glück, immer noch Kleines Glück...«
Im Vergleich zu den letzten Fotos, die Paul gesehen hatte, war Jean-Louis Schiffer um zwanzig Jahre gealtert. Seine regelmäßigen Züge waren hager geworden, sein Gesicht wirkte knochig, und die graue faltige Haut seines Halses erinnerte an die Schuppen eines Reptils. Seine vormals stahlblauen Augen waren unter den halb geschlossenen Lidern kaum zu sehen, und auch die langen, wehenden Haare, das Markenzeichen des ehemaligen Polizisten, waren kurz geschoren wie eine ganz gewöhnliche Frisierbürste; an Stelle der edlen Haarfülle, die geschimmert hatte wie Eisen, war nur noch ein Schädel aus Blech zurückgeblieben.
Sein noch kräftiger Körper verbarg sich unter einem königsblauen Trainingsanzug, dessen Kragen an den Seiten wie ein schlaffes Paar Flügel auf seine Schultern fiel. Neben dem Teller sah Paul einen Stapel mit Wettscheinen für Pferderennen: Jean-Louis Schiffer, die Legende der Straße, als Buchmacher einer Schar von Verkehrspolizisten im Ruhestand.
Wie hatte er nur glauben können, dass ihm ein solches Wrack helfen würde! Doch jetzt konnte er nicht mehr zurück. Paul rückte Gürtel, Waffe und Handschellen gerade und mühte sich - Blick geradeaus, Kiefer angespannt -, ein Paradengesicht aufzusetzen. Er spürte bereits den eisigen Blick auf sich ruhen, und nach einigen weiteren Schritten rief ihm der Mann unverhohlen zu: »Du bist zu jung für den IGS.«
»Hauptmann Paul Nerteaux, erste DJP, 10. Arrondissement.«
Er hatte einen militärischen Ton angeschlagen, den er sogleich bedauerte, doch der Alte fuhr fort: »Rue de Nancy?«
»Rue de Nancy.«
Die Frage war ein indirektes Kompliment: Es war die Adresse des SARIJ, der Kriminalabteilung des Viertels. Schiffer hatte in ihm den Ermittler erkannt, den Straßenpolizisten.
Während Paul nach einem Stuhl griff, warf er unbeabsichtigt einen Blick auf die Wettenden, die noch immer den Fernseher umstanden. Schiffer folgte seinem Blick und stieß ein Lachen aus. »Du verbringst dein Leben damit, dieses Pack hinter Gitter zu bringen, und was hast du davon? Am Ende hockst du selbst im Loch.«
Er schob sich ein Stück Fleisch in den Mund, seine Kaumuskeln bewegten sich unter der Haut wie ein gut funktionierendes, neues Räderwerk. Paul korrigierte sein Urteil. Chiffre war doch noch nicht am Ende. Man brauchte nur den Staub von der Mumie zu blasen.
»Was willst du?«, rief der Mann, nachdem er den Bissen hinuntergeschluckt hatte.
Paul gab sich Mühe, in demütigem Ton zu sprechen: »Ich komme, um Sie um Rat zu fragen.«
»In welcher Sache?«
»In dieser Sache.«
Er zog einen kartonierten Briefumschlag aus der Tasche seines Parkas und legte ihn neben die Wettscheine. Schiffer schob seinen Teller beiseite und öffnete ohne Eile die Akte. Er zog ein Dutzend Farbfotos heraus.
Er sah auf das erste und fragte: »Was ist das?«
»Ein Gesicht.«
Er betrachtete die nächsten Bilder. Paul kommentierte: »Die Nase wurde mit einem Messer oder einem Rasierer abgeschnitten. Die zerfetzte Haut auf den Wangen und die Risse stammen von demselben Werkzeug. Das Kinn ist abgefeilt worden. Die Lippen wurden mit einer Schere abgeschnitten.«
Schiffer blickte wortlos auf das erste Foto.
»Davor gab es Schläge«, fuhr Paul fort. »Der Gerichtsmediziner sagt, die Verstümmelungen wären erst nach dem Tod vorgenommen worden.«
»Ist sie identifiziert?«
»Nein. Die
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