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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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und schrieb die üblichen Informationen auf einen Block. Name, Alter, Adresse... Anna war versucht, ihre Identität nicht preiszugeben, doch sie hatte sich geschworen, von Grund auf ehrlich zu sein.
    Während sie antwortete, beobachtete sie ihre Gesprächspartnerin. Sie war beeindruckt von ihrer brillanten, herausfordernden, fast amerikanischen Art. Ihr braunes Haar fiel ihr auf die Schultern herab, sie hatte breite, regelmäßige Gesichtszüge und einen grellroten sinnlichen Mund, der die Blicke des Betrachters auf sich zog. Er erinnerte Anna an kandierte Früchte voll Zucker und Energie, und vom ersten Moment an hatte sie Vertrauen zu dieser Frau gefasst.
    »Wo liegt das Problem?«, fragte sie in heiterem Ton.
    Anna bemühte sich, kurz und bündig zu antworten: »Ich leide unter Gedächtnisstörungen.«
    »Welche Art Störungen?«
    »Ich erkenne vertraute Gesichter nicht wieder.«
    »Alle Ihnen vertrauten Gesichter?«
    »Vor allem das Gesicht meines Mannes.«
    »Erklären Sie mir das genauer: Erkennen Sie ihn überhaupt nicht mehr? Niemals?«
    »Nein. Es sind nur kurze Ausfälle. Ganz plötzlich sagt mir sein Gesicht überhaupt nichts mehr, er ist mir vollkommen fremd. Und dann rastet alles wieder ein. Bisher haben solche schwarzen Löcher immer nur eine Sekunde gedauert, doch in letzter Zeit kommen sie mir immer länger vor.«
    Mathilde klopfte mit dem Schaftende ihres Federhalters, einem schwarz glänzenden Montblanc, auf das vor ihr liegende Papier. Anna merkte, dass sie ihre Schuhe ausgezogen hatte.
    »Ist das alles?«
    Sie zögerte: »Manchmal passiert mir auch das Gegenteil... «
    »Das Gegenteil?«
    »Ich habe den Eindruck, Gesichter von Unbekannten wieder zu erkennen.«
    »Haben Sie ein Beispiel?«
    »Es passiert vor allem bei einer Person. Ich arbeite seit etwas über einem Monat in dem Schokoladengeschäft in der Rue du Faubourg-Saint-Honoré. Da gibt es einen Stammkunden, einen etwa vierzigjährigen Mann. Immer wenn er den Laden betritt, habe ich so ein vertrautes Gefühl. Aber ich kann mich nicht genau erinnern.«
    »Und was sagt er?«
    »Nichts. Er verhält sich so, als ob er mich nie an einem anderen Ort gesehen hätte, als gehörte ich hinter diese Theke.«
    Unter dem Schreibtisch spielte die Ärztin mit den Zehenspitzen in ihrer schwarzen Strumpfhose. Ihre ganze Haltung verbreitete etwas Schelmisches, Erfrischendes.
    »Wenn ich richtig sehe, können Sie Leute nicht erkennen, die Sie erkennen sollten, dafür erkennen Sie andererseits Leute, die Sie nicht kennen können. Richtig?«
    Sie zog die letzten Silben auf seltsame Weise in die Länge, es klang wie ein Cello-Vibrato.
    »Das kann man so sagen, ja.«
    »Haben Sie es mit einer guten Brille versucht?«
    Anna wurde plötzlich ärgerlich, sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen strömte. Wie konnte sie sich über ihre Krankheit lustig machen? Sie stand auf und griff nach ihrer Tasche, doch Mathilde Wilcrau hielt sie zurück.
    »Entschuldigen Sie. Es war nur ein dummer Scherz. Bitte bleiben Sie.«
    Anna stand reglos da, das rote Lächeln umgab sie wie ein wohltuendes Licht, und ihr Widerstand brach zusammen. Sie ließ sich in den Sessel fallen.
    Die Nervenärztin setzte sich ebenfalls wieder auf ihren Stuhl und begann erneut: »Fahren wir fort, bitte. Haben Sie manchmal, wenn Sie Gesichter sehen, ein Gefühl des Unbehagens? Ich meine die Gesichter, denen Sie jeden Tag begegnen, auf der Straße, an öffentlichen Orten.«
    »Ja, aber das ist ein anderes Gefühl. Ich habe so etwas wie Halluzinationen. Im Bus, bei größeren Abendessen, überall. Die Gesichter verschieben und vermischen sich, sie werden zu schaurigen Masken. Ich traue mich gar nicht mehr, jemanden anzusehen, und bald werde ich mich überhaupt nicht mehr aus dem Haus trauen... «
    »Wie alt sind Sie?«
    »Einunddreißig.«
    »Seit wann leiden Sie an diesen Störungen?«
    »Ungefähr seit sechs Wochen.«
    »Geht es Ihnen dabei auch körperlich schlecht?«
    »Nein... doch, ja. Da sind immer wieder Zeichen von Angst. Ich zittere, und mein Körper wird schwer. Meine Glieder werden steif. Manchmal glaube ich auch zu ersticken. Neulich hatte ich Nasenbluten.«
    »Geht es Ihnen sonst gesundheitlich gut?«
    »Sehr gut. Nichts Auffälliges.«
    Die Nervenärztin hielt inne und machte sich Notizen auf ihrem Block.
    »Haben Sie noch andere Gedächtnisstörungen, zum Beispiel, wenn es um Ereignisse Ihrer Vergangenheit geht?«
    Anna erinnerte sich daran, dass sie offen sein wollte, und antwortete:

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