Das Imperium der Woelfe
»Ja. Manche meiner Erinnerungen verblassen, es ist, als entfernten sie sich und würden ausgelöscht.«
»Welche? Die, die mit Ihrem Mann zu tun haben?«
Sie stemmte sich in das Polster des Sessels: »Warum fragen Sie mich das?«
»Weil sein Gesicht offenbar Ihre Krisen auslöst. Die gemeinsame Vergangenheit mit ihm könnte dabei eine Rolle spielen.«
Anna seufzte. Diese Frau befragte sie, als würde ihre Krankheit durch Gefühle oder ihr Unbewusstes beeinflusst; als würde sie willentlich ihre Erinnerung in eine bestimmte Richtung lenken. Diese Deutung war ganz anders als die von Ackermann. War sie nicht gerade deshalb hergekommen?
»Es stimmt«, räumte sie ein. »Meine Erinnerungen an Laurent werden trübe und verschwinden ganz.« Sie machte eine Pause und fuhr dann in lebhafterem Ton fort: »Vor der Zeit im Schokoladengeschäft war ich nichts als Hausfrau und habe mich um nichts als unser Zusammenleben gekümmert.«
»Haben Sie nie gearbeitet?«
Anna sagte in bitterem, selbstironischem Ton: »Ich habe ein Jura-Examen abgelegt, jedoch nie ein Anwaltsbüro betreten. Ich habe keine Kinder. Laurent ist alles, was ich habe, mein einziger Horizont, wenn Sie so wollen... «
»Wie lange sind Sie verheiratet?«
»Acht Jahre.«
»Haben Sie normale sexuelle Beziehungen?«
»Was nennen Sie normal?«
»Nicht aufregende, langweilige.«
Anna begriff nicht. Die Ärztin lächelte: »Das war wieder Spaß. Ich wollte nur fragen, ob Sie regelmäßige Beziehungen haben.«
»An diesem Punkt geht alles gut. Im Gegenteil, ich habe, ja, ich habe starkes Verlangen nach ihm. Immer stärker sogar, und es kommt mir so seltsam vor.«
»Vielleicht ist das gar nicht so seltsam.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
Statt zu antworten, schwieg sie.
»Was macht Ihr Mann beruflich?«
»Er ist Polizist.«
»Wie bitte?«
»Im höheren Dienst. Laurent bekleidet eine leitende Funktion im Innenministerium, er ist verantwortlich für Tausende Berichte und Statistiken über Probleme der Kriminalität in Frankreich. Ich habe nie begriffen, was er wirklich macht, aber es scheint wichtig zu sein. Er gehört zur engeren Umgebung des Ministers.«
Mathilde fragte weiter, als sei das alles ganz selbstverständlich: »Warum haben Sie keine Kinder? Gibt es da ein Problem?«
»Kein körperliches jedenfalls.«
»Also, warum dann?«
Anna zögerte, und ihr kam der Albtraum von Samstagnacht in Erinnerung, was Laurent ihr verraten hatte, das Blut auf ihrem Gesicht...
»Ich weiß es nicht genau, aber vor zwei Tagen habe ich meinem Mann genau diese Frage gestellt. Er antwortete, ich hätte keine gewollt und hätte sogar von ihm verlangt, dass er in dieser Sache einen Schwur leistet. Aber ich kann mich nicht daran erinnern.« Ihre Stimme wurde ein wenig höher. »Wie soll ich so etwas vergessen haben?« Jetzt betonte sie jede Silbe: »Ich er-in-ne-re mich nicht!«
Die Ärztin schrieb ein paar Zeilen nieder und fragte dann: »Und Ihre Kindheitserinnerungen? Gehen sie auch verloren?«
»Nein. Sie sind weit weg, aber doch sehr gegenwärtig.«
»Erinnerungen an Ihre Eltern?«
»Nein, ich habe meine Familie sehr früh bei einem Autounfall verloren und wuchs im Internat auf, in der Nähe von Bordeaux, mit einem Onkel als Vormund. Ich sehe ihn nicht mehr. Ich habe ihn sehr selten gesehen.«
»Woran erinnern Sie sich dann?«
»An Landschaften, weite Strände, Pinienwälder - das sind die Bilder, die in meinem Kopf herumschwirren, und sie werden in diesem Moment noch intensiver. Die Landschaften kommen mir wirklicher vor als alles andere.«
Mathilde fuhr mit ihren Aufzeichnungen fort, und Anna bemerkte, dass sie in Wirklichkeit Hieroglyphen auf das Papier warf. Ohne aufzublicken, setzte die Ärztin nach: »Wie schlafen Sie? Haben Sie Schlafstörungen?«
»Im Gegenteil, ich schlafe andauernd.«
»Wenn Sie versuchen, sich an etwas zu erinnern, werden Sie dann schläfrig?«
»Ja, dann überfällt mich so eine Art Starre.«
»Sprechen Sie von Ihren Träumen.«
»Seit Beginn meiner Krankheit träume ich etwas sehr Seltsames.«
»Erzählen Sie.«
Sie beschrieb den Traum, der sie nachts heimsuchte. Den Bahnhof und die Bauern. Den Mann im schwarzen Mantel. Die Fahne mit den vier Monden. Das Schluchzen der Kinder. Und dann den Sturm: leerer Torso, zerfetztes Gesicht...
Die Ärztin stieß einen bewundernden Pfiff aus, und obwohl Anna nicht hätte sagen können, ob sie dieses vertrauliche Benehmen mochte, wirkte diese Frau äußerst beruhigend.
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