Das Imperium der Woelfe
Höhe: »Mit meinem Mann?«
»Gehe ich von den Anzeichen aus, die Sie mir beschrieben haben, dann sind das Ihre zwei Abwehrmechanismen.«
»Dann wäre Laurent der Grund für mein Trauma?«
»Das habe ich nicht gesagt, aber meiner Meinung nach hängt alles zusammen. Der Schock, den Sie erlitten haben - wenn es ihn denn gab -, hat zu einer Vermischung zwischen Amnesie und Laurent heigetragen. Das ist alles, was man im Augenblick sagen kann.«
Anna schwieg und blickte auf das glimmende Ende ihrer Zigarette.
»Können Sie noch etwas Zeit gewinnen?«, fragte Mathilde.
»Zeit gewinnen?«
»Bevor die Biopsie stattfindet.«
»Sind Sie bereit, mich zu behandeln?«
Mathilde ergriff ihren Federhalter und zeigte auf Anna. »Können Sie die Untersuchung noch aufschieben oder nicht?«
»Ich glaube schon, ein paar Wochen. Aber wenn meine Ausfälle... «
»Sind Sie bereit, mit dem Mittel der Sprache Ihre Erinnerungen zu erforschen?«
»Ja.«
»Sind Sie mit einer gründlichen Arbeit einverstanden?«
»Ja.«
»Um bestimmte Techniken der Suggestion auszuprobieren wie zum Beispiel die Hypnose?«
»Ja.«
»Injektionen mit Beruhigungsmitteln?«
»Ja, ja, ja.«
Mathilde legte den Füller hin, der weiße Montblanc-Stern leuchtete auf: »Wir werden Ihr Gedächtnis entschlüsseln, vertrauen Sie mir.«
Kapitel 15
Ihr Herz schlug höher. Seit langem hatte sie sich nicht mehr so glücklich gefühlt. Allein die Annahme, dass die Symptome durch ein seelisches Trauma hervorgerufen sein könnten und nicht durch eine organische Störung, gab ihr wieder Hoffnung. Jedenfalls konnte sie sich vorstellen, dass ihr Gehirn nicht verändert war und keine Nervenzellen abgestorben und weitere vom Absterben bedroht waren.
Auf dem Rückweg im Taxi beglückwünschte sie sich dazu, diese Wendung herbeigeführt zu haben. Sie kehrte den Schädigungen, den Maschinen, den Biopsien den Rücken zu und öffnete ihre Arme dem Verstehen, der Sprache, der wohltuenden Stimme von Mathilde Wilcrau, deren seltsamen Tonfall Anne zu vermissen begann.
Als sie gegen dreizehn Uhr in der Rue du Faubourg-Saint-Honoré eintraf, schien um sie herum alles lebendiger und klarer zu sein. Sie genoss jedes Detail, wahrhafte Inseln und wundersame Archipele lauerten zu beiden Seiten der Straßen ihres Viertels. An der Kreuzung Avenue Hoche beherrschte die Musik das Szenario, dort, wo die Tänzerinnen der Salle Pleyel das Echo auf den Lack der Hammer-Klaviere im Pianohaus gegenüber gaben. Zwischen Rue de la Neva und Rue Daru - Moskauer Restaurants, orthodoxe Kirche - schloss sich Russland an, und kurz darauf tauchte man mit dem Tee von Mariages Frères und den Süßigkeiten im Maison du Chocolat ein in die Welt der Lieblichkeiten.
Als Anna den Laden betrat, war Clothilde gerade dabei, Regale zu putzen. Sie machte sich über Keramikvasen her, über Holzgefäße und Porzellanteller, deren vertraut rußbraunen, manchmal auch rötlichen Ton sie ebenso mit der Schokolade verband wie den Anflug von Wohlergehen und Glück, den ihr Anblick verströmte.
Clothilde, die auf einem Hocker stand, sah sich um: »Da bist du ja. Löst du mich für eine Stunde ab? Ich muss in den Supermarkt.«
Das war nur recht und billig, Anna war den ganzen Vormittag fort gewesen und konnte nun wenigstens während der Mittagszeit Wache schieben. Die Wachablösung erfolgte schweigend, nur ein Lächeln wurde getauscht. Anna, ein Tuch in der Hand, setzte die Arbeit fort und rieb, polierte, putzte mit all der Energie ihrer wieder gefundenen guten Stimmung.
Dann verließen sie erneut die Kräfte, und ein schwarzes Loch tat sich in ihrem Inneren auf. Innerhalb weniger Sekunden wurde ihr bewusst, wie trügerisch ihre Freude war. Was war an ihrem Arztbesuch vom Morgen so positiv gewesen? Ob nun organische Krankheit oder seelischer Schock, was änderte das an ihrem Zustand, an ihrer Angst? Was konnte Mathilde Wilcrau mehr tun, um sie zu heilen? Und inwiefern würde dabei ihr Wahn nachlassen?
Sie stand hinter der Verkaufstheke und war den Tränen nahe. Die Vermutungen der Psychiaterin waren unter Umständen noch beunruhigender als Ackermanns Diagnose, und die Vorstellung, dass ein Ereignis, also ein psychischer Schock ihrer Amnesie vorausgegangen war, verstärkte ihre Angst. Was verbarg sich hinter einer solchen toten Zone? Und was hatte dieser Satz zu bedeuten: »Das Trauma kann mit Laurent zu tun haben.« Welche Rolle spielte um Himmels willen ihr Mann in dieser Angelegenheit?
»Guten Tag.«
Stimme
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