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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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und Türglocke ertönten zugleich, und Anne brauchte nicht aufzublicken, um zu wissen, dass er es war.
    Als der Mann in der abgenutzten Jacke langsamen Schrittes auf sie zukam, wusste sie mit hundertprozentiger Sicherheit, dass sie ihn kannte. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber der Eindruck war so stark, so verletzend wie eine Pfeilspitze, dass jeder Zweifel ausgeschlossen war. Doch ihr Gedächtnis verweigerte ihr jeden Hinweis.
    Monsieur Wildleder trat, ohne ein Zeichen von Scheu oder besonderer Aufmerksamkeit, näher an Anna heran. Mit zerstreutem Blick, seine Augen schimmerten violett und golden zugleich, überflog er die eng aneinander gereihten Schokoladen. Warum erkannte er sie bloß nicht? Spielte er ihr etwas vor? Eine verrückte Idee drängte sich ihr auf: War er vielleicht ein Freund oder Komplize Laurents, der sie beobachten und testen sollte? Aber warum?
    Er schenkte Anna, die stumm und reglos vor ihm stand, ein Lächeln und sagte in lockerem Ton: »Ich glaube, ich nehme dasselbe wie immer.«
    »Ich bediene Sie sofort.«
    Anna ging auf die Vitrine zu. Sie spürte, wie ihre Hände zitterten. Mehrfach griff sie nach einer Tüte, bis es ihr gelang, sie mit der Schokolade zu füllen. Dann stellte sie die Jikola auf die Waage.
    »Zweihundert Gramm, zwei Euro fünfzig.«
    Sie musterte ihn erneut, und in diesem Moment war sie sich nicht mehr so sicher wie zuvor... Doch die Angst und das Unwohlsein hallten ebenso in ihr nach wie der Eindruck, dass dieser Mann genau wie Laurent sein Gesicht verändert hatte, dass er zu einem plastischen Chirurgen gegangen war. Sie erinnerte sich an das Gesicht, und doch konnte sie sich nicht genau erinnern...
    Der Mann schenkte ihr ein weiteres Lächeln, sah sie mit nachdenklichen Augen an, bezahlte und verließ den Laden. Sein »Auf Wiedersehen« war kaum zu hören.
    Anna blieb, starr vor Staunen, eine ganze Weile reglos stehen. Nie war ein Anfall derart intensiv gewesen, sämtliche Hoffnung vom Vormittag schien sich in Luft aufzulösen, und nachdem sie geglaubt hatte, gesund werden zu können, würde sie nun nur noch tiefer fallen. Sie fühlte sich wie eine Gefangene, die zu fliehen versucht und die, sobald man sie gefasst hat, in einem Verlies mehrere Meter unter der Erde landet.
    Die Türglocke erklang erneut.
    »Grüß dich.«
    Clothilde durchquerte den Raum, triefend nass vom Regen, stöhnend und riesige Beutel mit beiden Armen und Händen umklammernd. Sie verschwand für ein paar Augenblicke im Vorratsraum, um kurz darauf mit neuem Schwung im Laden zu erscheinen.
    »Was ist mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Zombie gesehen.«
    Anna schwieg, sie wusste nicht, ob sie sich übergeben oder weinen sollte.
    »Geht es dir schlecht?«
    Anna sah Clothilde verdutzt an, stand auf und sagte nur: »Ich muss an die frische Luft.«

Kapitel 16
     
    Draußen wurde der Regen immer stärker. Anna gab sich ihrem Kummer hin, sie ließ sich entführen vom Schauspiel kreiselnder Windböen und peitschender Regenfäden und beobachtete, von dumpfem Schmerz gebeugt, wie Paris von trüben Schlieren aufgewühlt und fortgespült wurde. Die Wolken drückten auf die Dächer wie riesige Wellen, die Fassaden der Häuser waren triefend nass. Die Figuren an Balkonen und Fenstern sahen aus wie die Gesichter Ertrunkener, grünlich oder blau schimmernd, überschwemmt von den Fluten des Himmels.
    Anna ging die Rue du Faubourg-Saint-Honoré hinauf, passierte die Avenue Hoche, links, bis zum Parc Monceau. Dort lief sie am schwarzgoldenen Parkgitter entlang und bog in die Rue Murillo ein. Es herrschte dichter Verkehr, die Autos versprühten Wasserstrahlen und Blitzfontänen. Die Motorradfahrer fuhren, mit Helmen und Kapuzen bewehrt, wie kleine Gummi-Zorros umher, während die Passanten gegen die Windstöße ankämpften. Wind und Regen verliehen ihren Kleidern das Aussehen nasser Tücher auf unfertigen Lehmskulpturen.
    Anna ging die Avenue de Messine entlang, die von hellen Gebäuden und großen Bäumen bestanden war. Sie wusste nicht, wohin ihre Schritte sie führten, doch das war gleichgültig. Verloren ging sie durch die Straßen, verloren trieben die Gedanken durch ihren Kopf.
    Und da sah sie es. In einem Schaufenster auf der anderen Straßenseite war ein farbiges Porträt ausgestellt. Anna ging hinüber. Es war die Reproduktion eines entstellten, verletzten Gesichts in kräftigen Farben. Sie ging noch näher heran, wie hypnotisiert: Dieses Bild erinnerte sie haargenau an ihre

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