Das Imperium der Woelfe
in dem Buch, überschlug Atelierfotos und Gemälde-Bildtafeln, bis sie schließlich auf Bacons Selbstporträt stieß, ein Schwarz-Weiß-Foto, aus dem der Blick des Künstlers intensiver strahlte als das Hochglanzpapier, auf das es gedruckt war.
Anna legte beide Hände auf die Katalogseiten, um den Anblick besser ertragen zu können. Seine Augen brannten gierig in einem großflächigen Gesicht, fast mondartig, von kräftigen Kiefern gerahmt. Eine kurze Nase, rebellisches Haar und eine steil herabfallende Stirn ergänzten das Gesicht dieses Mannes, der in der Lage schien, jeden Morgen den zerstörten Masken seiner Bilder standzuhalten.
Ein Detail erregte Annas besondere Aufmerksamkeit.
Eine Augenbraue des Malers war höher als die andere. Ein Raubtierauge blickte starr, erstaunt, wie auf einen festen Punkt gerichtet. Anna begriff die unglaubliche Wahrheit: Francis Bacon ähnelte, physisch betrachtet, seinen eigenen Bildern. Seinem Gesichtsausdruck haftete etwas an von der Verrücktheit und Entstellung seiner Gemälde. Hatte dieses asymmetrische Auge den Maler zu seinen deformierten Visionen inspiriert, oder hatten die Bilder am Ende den Maler besudelt? So oder so, die Bilder verschmolzen mit den Zügen des Künstlers...
Diese einfache Feststellung brachte sie zu einer Erkenntnis: Wenn die Verformungen auf Bacons Bildern einen realen Ursprung hatten, warum sollten dann ihre Halluzinationen nicht auch einen Anhaltspunkt in der Wirklichkeit haben?
Ein erneuter Verdacht ließ sie erstarren: Was wäre, wenn sie im Grunde ihres Wahns Recht hatte? Wenn Laurent und Herr Wildleder tatsächlich ihre Gesichtszüge verändert hatten?
Sie lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Alles ergab nun einen Sinn. Laurent hatte, aus ihr bislang nicht nachvollziehbaren Gründen, ihre Amnesie genutzt, um seine Züge zu verändern. Er hatte sich mithilfe eines Schönheitschirurgen hinter seinem eigenen Gesicht verborgen; und Monsieur Wildleder hatte sich der gleichen Operation unterzogen.
Die beiden Männer waren Komplizen, sie hatten gemeinsam eine üble Tat begangen und anschließend ihr Aussehen verändert. Deshalb wurde sie von diesem Unwohlsein gepackt, sobald sie ihre Gesichter sah.
Mit einem Schlag verwarf Anna alle unmöglichen, absurden Assoziationen, die sie auf diese Idee gebracht hatten, und hatte doch das Gefühl, der Wahrheit nahe zu kommen, so irre dies auch schien.
Ihr Gehirn gegen das der anderen. Gegen alle anderen.
Sie lief zur Tür. Auf dem Treppenabsatz, oberhalb des Geländers, sah sie ein Bild, das ihr bisher nicht aufgefallen war. Es zeigte eine Ansammlung von Narben, die versuchten, ihr zuzulächeln.
Kapitel 17
Am Ende der Avenue de Messine fand Anna eine Brasserie. Sie bestellte an der Bar ein Perrier und ging ins Untergeschoss, um einen Blick ins Telefonbuch zu werfen.
Sie hatte genau diese Szene am selben Morgen erlebt, als sie am Boulevard Saint-Germain die Nummer der Psychiaterin gefunden hatte. Vielleicht war es ein Ritual, das man wiederholen musste, wie man bestimmte Kreise der Initiation durchläuft, immer wiederkehrende Prüfungen, um zur Wahrheit zu gelangen...
Sie blätterte in den zerknitterten Seiten und studierte unter der Rubrik >Plastische Chirurgie< nicht die Namen, sondern die Adressen. Sie suchte einen Arzt in unmittelbarer Nähe, als ihr Finger unter einer Zeile stehen blieb: Didier Laferrière, Rue Boissy-d'Anglas 12. Soweit sie sich erinnerte, lag diese Straße ganz in der Nähe der Place de la Madeleine, also nur fünfhundert Meter entfernt.
Es läutete sechs Mal, dann ertönte eine Männerstimme.
»Doktor Laferrière?«
»Das bin ich.«
Sie hatte Glück. Sie musste nicht mit der Sprechstundenhilfe reden.
»Ich rufe wegen eines Termins an.«
»Meine Sekretärin ist heute nicht da. Warten Sie.« Sie hörte die Tastatur eines PC. »Wann wollen Sie kommen?«
Die Stimme war seltsam, gedämpft, ohne Klang. Sie antwortete: »Sofort. Es handelt sich um einen Notfall.«
»Ein Notfall?«
»Ich erkläre es Ihnen. Bitte, lassen Sie mich zu Ihnen kommen. «
Es entstand eine Pause, nach einer Sekunde der Zurückhaltung oder des Misstrauens fragte die gedämpfte Stimme: »Wann können Sie hier sein?«
»In einer halben Stunde.«
Anna hörte die Spur eines Lächelns in der Stimme, ihre Eile schien ihn zu belustigen: »Ich erwarte Sie.«
Kapitel 18
»Ich verstehe Sie nicht. Welcher Eingriff interessiert Sie genau?«
Didier Laferrière war ein kleiner Mann mit
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