Das Imperium der Woelfe
erinnerten.
Als sie an die Kinder dachte, hatte sie sich wieder beruhigt. Sie waren der Inbegriff ihres Lebens, sie würden seine letzte Quelle sein. Sie bewegte sich ganz auf dieser Schiene. Sie vergaß sich selbst, trat in den letzten Jahren der Erziehung ganz in den Hintergrund. Aber auch sie hatten sie am Ende verlassen. Ihr Sohn verlor sich in einer zugleich winzigen und riesigen Stadt, die nur aus Chips und Mikroprozessoren bestand. Ihre Tochter entdeckte sich selbst auf Reisen und beim Studium der Ethnologie, jedenfalls behauptete sie das. Vor allem anderen konnte sie sicher sein, dass sie ihr Weg weit genug von den Eltern wegführte.
So musste Mathilde sich für den letzten Menschen interessieren, der noch an Bord war - sie selbst. Sie gönnte sich jeden Luxus: Kleider, Möbel, Liebhaber. Sie ging auf Kreuzfahrt, unternahm riskante Ausflüge in Gegenden, von denen sie immer geträumt hatte. Vergeblich. Ihre verrückten Ideen schienen ihren Zusammenbruch nur zu beschleunigen, sie schien immer schneller zu altern.
Die Verwüstung richtete weitere Schäden an. Die Versandung nahm immer mehr zu, nicht nur in ihrem Körper, auch in ihrem Herzen. Sie wurde härter und herber im Umgang mit anderen. Ihr Urteil war unumstößlich, ihre Einstellung messerscharf und unnachgiebig. Großzügigkeit, Verständnis und Einfühlungsvermögen kamen ihr abhanden. Die kleinste Nachgiebigkeit kostete ungekannte Anstrengung. Sie litt an einer Lähmung des Gefühls, die sie feindselig gegenüber anderen machte.
Sie überwarf sich mit den engsten Freunden und war schließlich allein, wirklich allein. Da sie keine Gegner mehr hatte, begann sie, Sport zu treiben, um gegen sich selbst zu kämpfen. Sie betrieb Bergsteigen, Rudern, Gleitschirmfliegen und Schießen. Das Training wurde für sie zur ständigen Herausforderung, die Besessenheit trieb ihr die Ängste aus.
Inzwischen hatte sie all diese Exzesse hinter sich gelassen, doch immer wieder nahm sie an Wettkämpfen teil. Gleitschirmfliegen in den Cevennen, alljährliche Besteigung der »Dalles«-Passagen bei Chamonix, Triathlon-Wettbewerb im Aosta-Tal. Mit zweiundfünfzig hatte sie eine körperliche Form, vor der jede Jugendliche verblassen musste. Und jeden Tag blickte sie voller Stolz hinüber zu den funkelnden Trophäen auf ihrer Kommode, ein besonders wertvolles Stück, echte Oppenordt-Werkstatt.
Von ihrem wahren Triumph allerdings konnte niemand etwas ahnen, denn in all den Jahren der Einsamkeit hatte sie nie Medikamente genommen, nie auch nur das schwächste Mittel gegen Angst oder Depressionen.
Jeden Tag betrachtete sie sich im Spiegel und erinnerte sich an diese Leistung. Das Glanzstück ihrer Trophäen. Ein persönliches Ausdauer-Zeugnis, das bewies, dass ihre Reserven an Mut und Willenskraft noch nicht erschöpft waren.
Die meisten Menschen leben von der Hoffnung auf bessere Zeiten, Mathilde Wilcrau hingegen hatte ihre Angst vor dem Schlimmsten überwinden können.
Natürlich blieb ihr inmitten dieser Wüste die Arbeit, die Sprechstunde im Krankenhaus Sainte-Anne und die Therapiesitzungen bei ihr zu Hause. Arbeit auf die harte und weiche Tour, wie in den unterschiedlichen Kampfsportarten, die sie ausprobiert hatte. Psychiatrische Behandlung und psychoanalytisches Zuhören. Doch im Lauf der Zeit waren die beiden Pole in derselben Routine verschmolzen.
Strenge und notwendige Rituale bestimmten inzwischen ihre Arbeitszeit. Einmal pro Woche aß sie mit den Kindern zu Mittag, die immer nur über die eigenen Erfolge und die Niederlage ihrer Eltern redeten. Am Wochenende sah sie sich zwischen zwei Trainingsstunden in Antiquitätenläden um. Dienstagabends besuchte sie Seminare der Gesellschaft für Psychoanalyse, bei denen sie einige vertraute Gesichter sah, vor allem ehemalige Liebhaber, von denen sie oft nicht einmal mehr die Namen wusste und die ihr immer schon langweilig vorgekommen waren. Aber vielleicht hatte sie ja auch den Sinn für Liebe verloren, wie wenn man sich die Zunge verbrennt und den Geschmack der Lebensmittel nicht mehr spürt...
Sie warf einen Blick auf die Wanduhr, keine fünf Minuten mehr bis zum Ende der Sitzung. Der Mann redete noch immer. Sie bewegte sich in ihrem Sessel, und ihr Körper hatte gelernt, die bevorstehenden Empfindungen vorwegzunehmen: die Trockenheit in der Kehle, wenn sie nach dem langen Schweigen die abschließenden Worte sagen musste; das weiche, sanfte Dahingleiten ihres Füllers über den Terminkalender, wenn sie den Zeitpunkt
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