Das Imperium der Woelfe
für die nächste Sitzung notierte; das Knarzen des Leders, wenn sie aufstand.
Wenig später, in der Diele, drehte der Patient sich um und fragte mit ängstlicher Stimme: »Bin ich nicht zu weit gegangen, Doktor?«
Mathilde lächelte ihm aufmunternd zu und öffnete die Tür. Was hatte er heute nur Bedeutendes von sich gegeben? Nicht weiter schlimm, nächstes Mal würde er sich noch übertreffen. Sie begleitete ihn bis in den Treppenhausflur und betätigte den Türöffner.
Als sie die Frau sah, stieß sie einen Schrei aus. Sie stand dicht an die Mauer gedrängt, in einem schwarzen Kimono, und Mathilde erkannte sie sofort: Anna Sowieso. Die Frau, die eine gute Brille brauchte. Sie war totenbleich und zitterte am ganzen Körper. Was konnte geschehen sein?
Wütend dirigierte Mathilde den Mann die Treppe hinab und wandte sich der kleinen Brünetten zu. Nie würde sie zulassen, dass einer ihrer Patienten einfach so ohne Termin bei ihr auftauchte. Bei einem guten Psycho musste immer alles seine Ordnung haben.
Sie wollte ihr gerade raten, sich zu waschen, doch die Frau war schneller und hielt ihr eine Röntgenaufnahme ihres Gesichts unter die Nase: »Sie haben mein Gedächtnis ausgelöscht. Sie haben mein Gesicht zerstört.«
Kapitel 28
Paranoide Schizophrenie, die Diagnose war eindeutig. Anna Heymes behauptete, von ihrem Gatten, von Dr. Eric Ackermann und anderen Männern manipuliert worden zu sein, von Angehörigen der französischen Polizei. Man habe sie ohne ihr Wissen einer Gehirnwäsche unterzogen und einen Teil ihres Gedächtnisses geraubt. Ihr Gesicht hätte man mit plastischer Chirurgie verändert. Sie wusste nicht, warum und wie, aber sie sei das Opfer einer Verschwörung, eines Experiments, das ihre Persönlichkeit verstümmelt habe.
Sie hatte dies alles in größter Eile erklärt und dabei mit ihrer Zigarette herumgefuchtelt wie mit einem Dirigentenstab. Mathilde hatte ihr geduldig zugehört, und ihr war aufgefallen, wie abgemagert sie aussah - auch Anorexie war ein Paranoia-Symptom.
Anna Heymes war mit ihrem Ammenmärchen am Ende. Sie hatte am Morgen die Machenschaften entdeckt, im Badezimmer, als sie die Narben auf ihrem Gesicht sah, während ihr Mann darauf wartete, sie in Ackermanns Klinik einzuliefern.
Sie war durch das Fenster geflohen, verfolgt von Polizisten in Zivil, die bis an die Zähne bewaffnet waren und Funkgeräte mit sich führten. Sie hatte sich in einer orthodoxen Kirche versteckt und im Krankenhaus Saint-Antoine röntgen lassen, um einen Beweis für ihre Operation zu erhalten. Danach war sie bis zum Abend herumgeirrt und hatte die Dunkelheit abgewartet, um sich zu dem einzigen Menschen zu flüchten, dem sie vertraute: Mathilde Wilcrau. Und da war sie nun.
Paranoide Schizophrenie.
Mathilde hatte Hunderte ähnlicher Fälle im Krankenhaus Sainte-Anne behandelt. Zu allererst musste man die Krise entschärfen. Mit beruhigenden Worten war es ihr gelungen, der jungen Frau intramuskulär fünfzig Milligramm Tranxen zu spritzen.
Jetzt schlummerte Anna auf dem Sofa, und Mathilde saß in ihrer üblichen Haltung hinter dem Schreibtisch.
Sie brauchte eigentlich nur noch Laurent Heymes anzurufen - oder zu veranlassen, dass Anna eingewiesen wurde; oder direkt mit Eric Ackermann, dem behandelnden Arzt, Kontakt aufzunehmen, und in ein paar Minuten wäre alles geregelt. Eine einfache Routinegeschichte.
Aber warum rief sie ihn nicht an? Seit mehr als einer Stunde saß sie da und nahm den Hörer nicht ab. Sie sah auf die Teilflächen der Möbel, die in der Dunkelheit schimmerten, im Licht, das durch das Fenster drang. Seit Jahren war Mathilde von diesen antiken Rokokostücken umgeben, die meisten hatte ihr Mann gekauft. Während der Scheidung hatte sie hart darum kämpfen müssen, nicht um ihn zu ärgern, sondern um etwas von ihm zu behalten. Sie hatte sich nie entschließen können, die Möbel zu verkaufen. Heute lebte sie in einer Art Kapelle, in einem Mausoleum voller lackierter alter Stücke, die sie an die einzigen Jahre erinnerten, die wirklich gezählt hatten.
Paranoide Schizophrenie. Ein wirklich typischer Fall.
Aber da waren die Narben. Die kleinen Striche auf Stirn, Ohren und Kinn der jungen Frau. Sie hatte unter der Haut sogar die Schrauben und Implantate gespürt, die die Knochenstruktur des Gesichts stützten. Das schreckliche Röntgenbild hatte ihr die Details der Eingriffe verraten.
In ihrer Laufbahn war Mathilde vielen Psychotikern begegnet, selten trugen sie konkrete Beweise
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