Das Imperium der Woelfe
ihrer Wahnvorstellungen auf dem Gesicht. Anna Heymes hatte man eine echte Maske über das Gesicht gelegt. Eine geformte und zusammengenähte Hautlage, die gebrochene Knochen und zerstörte Muskeln verbarg.
War es möglich, dass sie tatsächlich die Wahrheit sagte?
Dass Männer - vor allem Polizisten - sie einer solchen Behandlung ausgesetzt hatten? Dass sie ihr die Gesichtsknochen zerschmettert und ihr Gedächtnis verändert hatten?
Mehr noch irritierte sie, dass Eric Ackermann mit der Sache zu tun hatte. Sie erinnerte sich an den großen Rothaarigen mit dem Aknenarben-Gesicht. Einer ihrer unzähligen Uni-Verehrer, ein Kerl mit auffallender Intelligenz, an der Grenze zur Überspanntheit.
Damals hatte er sich für das Gehirn und für so genannte »Reisen ins Selbst« begeistert. Er hatte Timothy Learys LSD-Experimente in Harvard nachgeahmt, um unbekannte Bewusstseinsregionen zu erkunden. Er nahm jede Menge Designer-Drogen und analysierte seine eigenen Wahnzustände. Manchmal hatte er anderen Studenten LSD in den Kaffee getan, »um zu sehen, was geschah«. Mathilde lächelte, als sie an diesen Wahnsinn dachte, an diese ganze Epoche: Psychedelic Rock, die Freiheit, die sich die Protestierenden nahmen, die Hippie-Bewegung ...
Ackermann sagte voraus, dass man eines Tages mit Maschinen ins Gehirn reisen und seine Aktivitäten beobachten würde. Die Zeit hatte ihm Recht gegeben, und der Neurologe war einer der besten Spezialisten in dieser Disziplin geworden, dank Positronenemissions-Tomografie oder Magnetenzephalografie.
Ob es möglich war, dass er an der jungen Frau Experimente durchgeführt hatte?
Sie suchte in ihrem Adressbuch die Nummer einer früheren Studentin, die 1995 bei ihr an der Fakultät Sainte-Anne studiert hatte. Beim vierten Läuten antwortete jemand.
»Valérie Rannan?«
»Ja, am Apparat.«
»Hier spricht Mathilde Wilcrau.«
»Professor Wilcrau?«
Es war mitten in der Nacht, doch ihre Stimme klang recht munter.
»Es kommt Ihnen sicher seltsam vor, dass ich jetzt anrufe, um diese Zeit...«
»Was wollen Sie?«
»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, wissen Sie, über Ihre Doktorarbeit. Sie hatte doch mit der Manipulation des Gehirns und mit Sinnesdeprivationen zu tun.«
»Damals schien Sie das nicht sonderlich zu interessieren.«
Mathilde hörte den aggressiven Beiklang dieser Antwort, immerhin hatte sie sich damals geweigert, die Arbeit der Studentin zu betreuen. Sie glaubte nicht, dass sich die Erforschung des Themas lohnte. Für sie war Gehirnwäsche eher so etwas wie eine kollektive Wunschvorstellung, ein moderner Aberglaube. Sie sagte in freundlich lächelndem Ton: »Ja, ich weiß, ich war skeptisch. Aber heute brauche ich Informationen für einen Aufsatz, der dringend ist.«
»Also fragen Sie.«
Mathilde wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Sie wusste nicht einmal genau, was sie wissen wollte. Auf gut Glück sagte sie: »In der Zusammenfassung Ihrer Arbeit schreiben Sie, es sei möglich, die Erinnerung einer Person auszulöschen. Ist das wahr?«
»Diese Techniken wurden in den fünfziger Jahren entwickelt.«
»Damals wurde so etwas von den Sowjets praktiziert, oder?«
»Von Russen, Chinesen, Amerikanern, von allen. Es war eine der wichtigsten Waffen im Kalten Krieg. Das Gedächtnis vernichten, Überzeugungen zerstören. Persönlichkeiten formen.«
»Was für Methoden haben sie verwendet?«
»Immer dieselben: Elektroschocks, Drogen, Sinnesdeprivation.«
Kurzes Schweigen.
»Welche Drogen?«, fragte Mathilde.
»Ich habe mich vor allem mit dem Programm der CIA beschäftigt: MK-Ultra. Die Amerikaner verwendeten Beruhigungsmittel, Phenotrazin, Natriumamytal, Chlorpromazin.«
Mathilde kannte diese Namen; die schwere Artillerie der Psychiatrie. In den Krankenhäusern verabreichte man diese Mittel unter dem Allgemeinbegriff »chemische Zwangsjacke«. In Wirklichkeit aber waren es echte Zerkleinerer, Maschinen, mit denen der Geist zermahlen wurde.
»Und die Sinnesdeprivation?«
Valérie Ranan lachte höhnisch auf: »Die weitreichendsten Experimente wurden seit 1954 in Kanada durchgeführt, in einer Klinik in Montréal. Zuerst befragten die Nervenärzte ihre Patienten, Depressive. Sie zwangen sie, Fehler zuzugeben, Wünsche, derer sie sich schämten. Danach sperrten sie sie in stockdunkle Zimmer, in denen man weder Decke noch Boden noch Wände erkennen konnte. Dann befestigten sie Football-Helme auf den Köpfen der Patienten, in denen Auszüge ihrer Beichte aufgezeichnet
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