Das Imperium der Woelfe
Schweigens.
Mathilde merkte, dass Anna weinte und zart und hell schluchzte - wie ein kleines Mädchen. Nach einer ganze Weile fuhr sie, hie und da von Weinen unterbrochen, fort: »Aber warum haben sie mein Gesicht verändert?«
»Das ist nicht zu verstehen. Ich kann nachvollziehen, dass du im falschen Moment am falschen Ort warst. Aber ich sehe keinen Grund, dein Gesicht zu verändern. Oder die ganze Sache ist noch verrückter, und sie haben deine Identität umgemodelt.«
»Das heißt, dass ich vor all dem eine andere war?«
»Die plastisch-chirurgische Operation ließe diesen Schluss zu.«
»Dann wäre ich also gar nicht die Frau von Laurent Heymes?«
Mathilde antwortete nicht. Anna setzte nach: »Aber was ist mit meinen Gefühlen? Meiner Intimität mit ihm?«
Mathilde wurde wütend. Mitten in diesem Albtraum dachte Anna noch an ihre Liebesgeschichte. Nichts zu machen, wenn Frauen Schiffbruch erlitten, dann mussten zuerst Lust und Gefühle gerettet werden.
»All die gemeinsamen Erinnerungen. Die kann ich doch nicht alle erfunden haben!«
Mathilde zuckte die Achseln, als wollte sie ihre folgenden Worte abmildern: »Deine Erinnerungen können dir eingepflanzt worden sein. Du hast selbst zu mir gesagt, dass sie sich auflösen, dass sie keine Realität haben... Eigentlich ist ein solches Manöver unmöglich. Aber so wie Ackermann veranlagt ist, kann man alles vermuten. Und die Bullen müssen ihm unbegrenzte Mittel bewilligt haben.«
»Die Bullen?«
»Wach auf, Anna. Das Institut Henri Becquerel. Die Militärs. Laurents Beruf. Abgesehen von dem Schokoladengeschäft bestand deine Welt nur aus Polizisten oder Uniformen. Die haben dir das angetan. Und sie sind es auch, die dich suchen.«
Sie gelangten zur Zufahrt der Gare d'Austerlitz, die gerade renoviert wurde. Eine der Fassaden war vollkommen freigelegt, eine Filmkulisse. Die Fenster gähnten den Himmel an, wie die Überreste eines Bombenabwurfs. Links dahinter floss die Seine. Dunkler, zäh fließender Schlamm...
Nach langem Schweigen begann Anna erneut: »Einer in dieser Geschichte ist kein Bulle.«
»Wer?«
»Der Kunde in dem Laden. Der Mann, den ich wieder erkannt habe. Meine Kollegin und ich nannten ihn >Monsieur Wildledern<. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, aber ich spüre, dass der Kerl mit der Sache nichts zu tun hat. Dass er zu der Zeit meines Lebens gehört, deren Erinnerungen sie gelöscht haben.«
»Und warum läuft er dir über den Weg?«
»Vielleicht nur zufällig.«
Mathilde schüttelte den Kopf: »Hör zu, wenn ich einer Sache sicher bin, dann, dass es in dieser Geschichte keinen Zufall gibt. Dieser Kerl steckt mit den anderen unter einer Decke, da kannst du sicher sein. Und wenn dir sein Gesicht etwas sagt, dann deshalb, weil du ihn mit Laurent gesehen hast.«
»Oder weil er Jikola mag.«
»Was mag er?«
»Schokolade mit Mandelkreme gefüllt. Eine Spezialität unseres Hauses.« Sie lachte gezwungen und wischte sich die Tränen ab. »In jedem Fall ist es logisch, dass er mich nicht wieder erkennt, da mein Gesicht nicht mehr dasselbe ist.« In hoffnungsvollem Ton fügte sie hinzu: »Wir müssen ihn finden. Er weiß etwas über meine Vergangenheit.«
Mathilde enthielt sich jeden Kommentars. Sie steuerte den Mercedes den Boulevard de l'Hôpital hinauf, an den eisernen Bögen der überirdischen Métro entlang.
»Wohin fahren wir denn?«, rief Anna.
Mathilde fuhr schräg über die Straße und parkte in Gegenrichtung vor dem Gelände des Krankenhauses La Pitié-Salpê-trière. Sie stellte den Motor ab, zog die Handbremse an und wandte sich der kleinen Kleopatra zu: »Der einzige Weg, diese Geschichte zu begreifen, besteht darin, herauszufinden, wer du >vorher< warst. Nach deinen Narben zu urteilen hat die Operation vor etwa sechs Monaten stattgefunden. So oder so, wir müssen in die Zeit davor zurückgehen.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Du musst dich an das erinnern, was vor diesem Datum geschehen ist.«
Anna warf einen Blick auf das Hinweisschild an der Universitätsklinik: »Willst du mich unter Hypnose befragen?«
»Dazu ist keine Zeit mehr.«
»Was willst du machen?«
Mathilde schob eine schwarze Strähne hinter Annas Ohr: »Wenn dein Gedächtnis uns nichts mehr sagen kann und dein Gesicht zerstört ist, gibt es noch ein Ding, das sich an dich erinnern kann.«
»Was?«
»Dein Körper.«
Kapitel 31
Die biologische Abteilung von La Pitié-Salpêtrière ist im Gebäude der medizinischen
Weitere Kostenlose Bücher