Das Implantat: Roman (German Edition)
geholfen werden«, sage ich. »Er wurde in der Absicht erfunden, Gutes zu tun.«
»Und wenn schon«, erwidert Lyle. Vaughn scheint er gar nicht mehr wahrzunehmen. »Ich bin jenseits von Gut und Böse. Und es ist noch nicht zu spät. Du solltest dich mir anschließen. Mit dem Ding, das du da in der Birne hast – Mensch, da könnten wir die Welt aus den Angeln heben. Ich weiß, dass du nicht das Zeug zum Mörder hast, aber das ist bei den besten Generälen immer so.«
Lyle streckt die Hand aus, damit ich einschlage. Doch ich lausche bereits meinem Zenith. Lasse mich von einem Level zum anderen fallen. Nehme den Express-Fahrstuhl zum Mittelpunkt der Erde.
Drei, zwei, eins. Drei, zwei, eins. Drei, zwei, eins.
»Tu das nicht«, meint Lyle lächelnd. Er streckt mir die Hand noch näher hin, doch ich bin nicht mehr da. »Wo willst du hin, Kumpel?«
Ich steige tiefer hinab, als ich je gewesen bin. Sinke rasch und stetig wie ein Stein durchs Wasser. Lyle weicht auf den Balkon zurück. Verwirrtes Gemurmel steigt von den Zuschauern auf, als sie den Cowboy sehen. Seine Miene ist düster, und er ist so gefährlich wie eine lebendige Hochspannungsleitung. Mein Magen verkrampft sich vor Angst, wenn ich nur daran denke, wie nah er mir ist.
Heiser und eindringlich flüstert er auf mich ein: »Töte ihn mit mir zusammen, Owen. Gemeinsam können wir eine neue Welt erschaffen.
Ad astra cruentus.
Zu den Sternen, Bruder, beide in Blut getaucht.«
Die Antwort steigt tief aus meinem Innern auf, und ich kann genau spüren, wie Stimmbänder und Zunge aus meinem Atem ein einzelnes Wort formen.
Niemals.
In meinem Kopf höre ich die Stimme meines Vaters. Während er zu mir spricht, schwindet mir die Sicht. Der vertraute Klang seiner Worte weckt tausend Erinnerungen und treibt mir Tränen in die Augen.
Ich habe dir ein kleines Extra eingebaut, Owen. Level sechs. Kein Leiden mehr. Befehlsfunktion ausgelöscht. Eine Schleuse zu deiner Seele. Gedanken werden zu Taten. Ich liebe dich, mein Sohn. Ich vertraue dir. Tue Gutes. Bist du einverstanden? Bist du einverstanden?
Er hat mir eine Nachricht hinterlassen. Sie war schon die ganze Zeit da. Mein Vater.
Bist du einverstanden?
Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, bis ich die Antwort weiß.
Ja.
Der Zenith erwacht.
Plötzlich scheint der Raum vor leuchtenden Musterbeispielen für Mord und Totschlag förmlich überzuquellen. Spinnwebenfeine, funkelnde Linien zeichnen den Schwungverlauf von durch die Luft fliegenden Fäusten und in den Körper gerammten Knien nach. Eng gerasterte Wahrscheinlichkeitskarten steigen aus dem Boden auf und zeigen winzige Unterschiede in seiner Beschaffenheit an, störende Lichtreflexe, mögliche Fluchtwege. Und jede leuchtende Wahrscheinlichkeitskurve und aus der Umgebung hervortretende Vektorlinie hat nur ein Ziel: Lyles verfinstertes Gesicht.
Jeder Level davor war bloß ein müder Abglanz dieses strahlenden Spektakels.
Ein paar Millisekunden lang bin ich zu überwältigt von dem, was mir meine Implantate da vor Augen führen, um mich zu bewegen. Ich wusste nicht, dass es auf der Welt so etwas Schönes gibt. Irgendwo anders bekommen meine wahren Augen gerade einen toten, leeren Blick angesichts dieser Pracht. Das Gleiche muss ein Gepard sehen, wenn er mit hundert Kilometern in der Stunde und gefletschten Zähnen auf sein Opfer zurast. Jeder Gegenstand erwacht zum Leben – bekommt einen flackernden Strahlenkranz aus Daten, die alle einem einzigen Zweck dienen: mir zu helfen, meinen Kampf mit Lyle Crosby zu überleben.
Um seine Muskeln aufzuwärmen, führt mein Körper ein paar reflexartige Finten und Ausfallschritte aus. Auch der dünne Cowboy geht zum Angriff über und ahnt meine ersten drei Täuschungsmanöver sicher voraus. Beim letzten jedoch verändere ich leicht Tempo und Stoßrichtung und kann ihn so auf dem falschen Bein erwischen.
Seine Hardware läuft mit Sicherheit gerade ziemlich heiß, aber nicht so heiß wie meine. Wie zwei aus nächster Nähe abgefeuerte Pistolenkugeln prallen wir aufeinander. Er stolpert nach hinten, und ich kann ihn gegen die Brüstung des Balkons drücken.
Vor Tausenden von Zuschauern.
»Wo bist du?«, flüstert Lyle.
Unsere Arme greifen ineinander und lösen sich wieder zu raschen Schlagfolgen. Attacken, Blocks und Konter wechseln einander so schnell ab wie Nervenblitze. So viele mögliche Armbewegungen leuchten um uns herum in der Luft, dass wir aussehen wie indische Gottheiten. Mit jedem brutalen
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