Das Implantat: Roman (German Edition)
herrscht dort Not am Mann – oder besser gesagt Not am Amp. Einen Arbeiter mehr könnten sie immer gebrauchen, meint Jim.
Auf der Baustelle schlüpfen gerade ungefähr ein Dutzend weitere Rentner in ihre metallisch glänzenden Anzüge – und gewinnen von einer Sekunde zur nächsten die wunderbare Kraft der Jugend zurück. Andere laufen auf vollautomatischen Prothesen umher oder greifen mit biegsamen Kohlefaserarmen nach ihrem Werkzeug. Alle strahlen jene strenge, roboterhafte Arbeitseinstellung aus, die irgendwie immer der vorhergehenden Generation zu eigen zu sein scheint. Und gegenüber dem Baustellentor wächst derweil die Wut.
Während der nächsten Stunden arbeite ich an der Erweiterung des Baugerüsts mit, damit die in die Jahre gekommenen Kletteraffen klirrende Betongitter einsetzen können. Die Sonne hat sich endgültig vom Horizont gelöst und brennt unbarmherzig auf uns nieder. Jim klärt mich darüber auf, dass ich weniger als den Mindestlohn für die Arbeit bekomme, doch das wenigstens in bar. Wichtiger als das Geld ist mir aber sowieso, etwas zu tun zu haben, das mich ein bisschen von allem ablenkt.
»Die Dinge ändern sich immer schneller«, ruft Jim mir zu, während er Stahlstreben einpasst. Von jenseits des Zauns dringen weiterhin ab und zu Beschimpfungen zu uns auf die Baustelle herüber. »Und Veränderungen machen den Menschen Angst. Machen sie gefährlich.«
»Aber warum sind Sie dann hier?«, frage ich ihn. »Sie bekommen doch Rente, oder?«
Jim lacht trocken. »Du bist noch jung. Du weißt nicht, wie es ist, alt zu werden. Aber du hast recht: Wegen des Geldes mache ich das hier nicht.«
»Dann sollten Sie vielleicht darüber nachdenken, sich lieber ein Hobby zu suchen.«
Jim macht mit seinem Metallanzug einen plötzlichen Satz und kommt mit solcher Wucht neben mir auf, dass ich erschrocken zusammenzucke. Er streckt mir seine schwielige Handfläche hin. Die Motoren des Exoskeletts schnurren leise, während die Greifer eingezogen werden.
»Ich bin jetzt Bauarbeiter. Was wäre ich ohne einen Job? Ohne ein Werkzeug in meiner Hand?«, fragt Jim.
Ich stelle mir vor, wie Jim einsam mit einer Flasche Schnaps in seinem Wohnwagen sitzt und eine weitere sinnlose Patience legt. Die Luft ist abgestanden und muffig, in einer Ecke flüstert leise der Fernseher vor sich hin. Der alte Mann muss das Gefühl haben, durch das Exoskelett eine zweite Chance zu bekommen. Die Chance, wieder jung zu sein.
»Und wenn das Werkzeug in einem steckt?«, gebe ich zurück. »Was ist man dann?«
Jim schlüpft mit einem Arm aus dem Exoskelett und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ohne hinsehen zu müssen, steckt er den Arm wieder zurück in den Anzug. Er spricht langsam und betont. »Auch in dem Fall ist es bloß ein Werkzeug«, antwortet er. »Letztendlich ist es immer der Mensch, der die Entscheidungen trifft, nicht die Maschine.«
»Wieso bin ich hier, Jim?«
Jim streckt die Hand nach einer Stahlstange aus. Mit den gebogenen Greifern hebt er die wippende Stange vom Stapel, als wäre sie aus Styropor. Er hält inne und betrachtet den geriffelten Stahl, als sähe er ihn zum ersten Mal – als wäre jede seiner Bewegungen ein kleines Wunder.
»Diese Stange wiegt bestimmt mehr als ich selbst«, sagt er. »Trotzdem kann ich sie einfach so hochheben. Diese Maschinen verleihen uns sehr viel Kraft.« Während Jim die Stange einsetzt, fährt er fort: »Ich nehme mal an, dein Vater hat dich zu mir geschickt, weil er hoffte, ich könnte dir sagen, was du da im Kopf hast und was du damit anfangen sollst. Das Problem ist: Ich weiß es nicht wirklich.«
Ich lasse die Schultern sinken.
»Aber eine Ahnung habe ich zumindest«, fügt Jim hinzu. »Und soweit ich sagen kann, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder du bist hier, damit Eden dir Schutz bietet … oder du bist hier, damit
du
Eden beschützt.«
Von der anderen Straßenseite dringt ein schriller Pfiff herüber.
Hinter dem Zaun fangen die Demonstranten an, zu skandieren. Mit tiefen Stimmen und aus so voller Kehle, dass die Worte nur verzerrt herauskommen, wiederholen sie: »Pure Pride! Pure Pride! Pure Pride!«
Ich stelle mir vor, wie die Männer draußen auf den Stoßstangen ihrer Trucks stehen, und erinnere mich, wie Samantha vor meinen Augen in den Tod gesprungen ist. Die Dinge geraten immer mehr außer Kontrolle. Irgendwer hat die Zügel losgelassen, und jetzt schleifen sie hüpfend über den Boden.
Jim hebt einen staubigen Vorschlaghammer vom
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