Das Implantat: Roman (German Edition)
sehen, der ein Schild in die Luft reckt und sich dabei die Seele aus dem Leib schreit. Sein Gesicht ist ganz rot. Andere Free-Body-Befürworter stehen um ihn herum und stimmen mit ebenso roten Gesichtern in die Rufe ein. Wie eine hängengebliebene Platte bellen sie immer wieder dieselben zwei Wörter heraus: »Keine Grenzen! Keine Grenzen!«
»Mach den Mist aus und bring mir eine Lampe«, faucht Jim.
Ich schalte den Fernseher aus. Die Vordertür steht noch offen, dahinter wartet die schwüle Nacht. Der Himmel ist sternenlos und bedeckt, im Gras zirpen die Grillen.
Auf der Couch liegt Nick mit weit aufgerissenen Augen und ängstlichem, traurigem Blick.
Jim ruft erneut nach Licht. Ich haste zum Küchentisch und schnappe mir eine billige Tischlampe, die dort auf einem Stapel alter Zeitungen steht. Dabei fallen ein paar alte Werbekulis und Autoschlüssel, zu denen es keine Autos mehr gibt, auf den Boden. Ich stöpsle die Lampe neben der Couch ein und halte sie so hoch, wie es mit ihrem kurzen Kabel möglich ist.
Jim zieht mit dem Daumen Nicks Lid zurück. Im schwachen Schein der Lampe verengt sich die Pupille des Jungen zu einem kleinen schwarzen Punkt. Auch der Umriss des Netzhautimplantats ist deutlich zu erkennen. Verglichen mit Nicks fleckig brauner Pupille wirkt die eckige Form unnatürlich und fehl am Platz.
»Wie heißt du, mein Junge?«, fragt Jim.
Langsam schärft sich Nicks Blick und richtet sich auf Jims Gesicht. Der alte Mann stützt zärtlich den Kopf des Jungen. Nick blinzelt ihn an. Bewegt mühsam die Lippen.
»Nick«, sagt er mit lallender Stimme. Wieder dreht er den Kopf zu Lucy um. »Mami?«, fragt er.
»Ich bin hier, mein Kleiner. Wo haben sie dir weh getan?«, will Lucy wissen.
Nick tippt sich mit der Faust an den Kopf. Es sieht seltsam aus, wie er dabei das Handgelenk und die Finger krümmt. Gar nicht gut.
Bestürzt verzieht Jim das Gesicht, versucht aber, sich nichts anmerken zu lassen. »Sonst nirgends?«
Nick schüttelt den Kopf. Lässt die Faust sinken.
»Wer war das?«
Nick blickt zu Lucy auf. Seine kleinen braunen Augen wirken größer als sonst, aber er antwortet nicht. Schließlich fangen seine Lippen an zu zittern. Doch wieder bekommt er kein Wort heraus. Dann schließt der Junge die Augen und schüttelt den Kopf. Tränen fallen auf die Sofakissen. Mit der Hand, die immer noch zur Faust geballt ist, wischt er sich über die Augen.
Wie ein Kleinkind.
Jim lässt sich auf die Fersen sinken. Lucy hält sich den Handrücken vor den Mund. Ich verliere die Konzentration und lasse unwillkürlich die Lampe sinken. Mit einem Mal bemerke ich, wie Lucy mich sanft am Rücken berührt. Ich greife hinter mich und nehme ihre Hand in meine. Wir sehen einander nicht an, spüren nur die Wärme unserer Finger.
Ich weiß nicht, ob Nicks Hirn geschädigt ist, aber einen guten Eindruck macht er nicht, und dabei ist er noch so jung. Ich versuche mir vorzustellen, was da passiert sein mag, schaffe es aber nicht. Irgendein Normalo hat offensichtlich versucht, ihm seinen Amp aus dem Kopf zu reißen.
Vielleicht hätte ich diese Normalo-Jungs doch nicht vor Lyle schützen sollen.
Jim hört auf, an Nicks Schläfe herumzudoktern, und richtet sich auf. In seiner Miene zeigt sich Erleichterung. »Sieht so aus, als sei die Buchse sauber herausgekommen. Das Implantat ist nicht beschädigt. Ich glaube, er wird sich wieder erholen. Aber bis wir eine Ersatzbuchse finden, sollte er im Bett bleiben«, meint Jim. »Er kann ruhig zu Hause bleiben. Das Krankenhaus bringt in dem Fall sowieso nichts.«
»Wer das auch getan hat«, sage ich. »Die sind jetzt dort draußen und lachen darüber.«
»Da kann man nichts machen«, erwidert Jim.
Er spricht mit erstickter Stimme, und plötzlich komme ich mir klein vor. Vor meinem geistigen Auge sehe ich den Wohnwagen aus großer Höhe. Ein winziger Kasten voll Wärme, aus dem gelbliches Licht auf das tote Gras fällt. Wie ein gesunkenes Wrack steht er hier, einsam und verlassen auf dem Meeresgrund.
Nick lässt die Faust auf seine Brust sinken. Als ich seine Finger ergreife, sieht er mich an und öffnet die Hand. Dabei fällt ein kleines, gelbes, elektronisches Etwas heraus.
Seine Wartungsbuchse.
»Gut gemacht, Nick«, flüstere ich. »Bist ein schlauer Bursche.«
Jim holt rasch eine Pinzette aus seiner Arzttasche. Damit nimmt er die Buchse auf und hält sie ins Licht.
»Kannst du sie wieder einsetzen?«, frage ich.
»Wir müssen sie erst sterilisieren. Aber hol erst
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