Das Implantat: Roman (German Edition)
mal den Fernseher rüber«, weist Jim mich an und erhebt sich ächzend.
»Warum?«
Jim hält das Implantat in die Höhe. »Wenn Nick uns nicht verraten kann, was passiert ist, nun, dann müssen wir es uns eben ansehen.«
In einer Senke, die nicht weit von hier ist, steht Nick mit blutigen Knien wieder auf. Er rennt, so schnell er kann. Wirft einen schnappschussartigen Blick über die Schulter. Er wird von einer Gruppe Männer verfolgt. Manche grinsen wie Halloween-Kürbisse, andere johlen ihm offenbar hinterher. Im Licht der Taschenlampen leuchten ihre Augen wie die von Raubtieren.
Wir sitzen im Wohnzimmer und sehen die Welt durch Nicks Augen. Das Netzhautimplantat, das Nick in einem seiner Augen trägt, hat alles aufgenommen. Es hat die Aufnahmen an Nicks Hirnimplantat weitergeleitet, das sie auf einer winzigen Festplatte gespeichert hat. Ungefähr zwanzig Minuten wurden gespeichert – bis zu dem Moment, an dem die Verbindung getrennt wurde. Über den Fernseher können wir sehen, was sich in dieser Zeit abgespielt hat.
Kein Ton. Nur ein stummes Gewaltvideo.
Nick stürzt erneut, landet auf seinem eigenen Schatten. Gräbt seine eingerissenen Fingernägel ins borstige Gras und zieht sich weiter. Ein Scheinwerfer ist auf seinen Rücken gerichtet. Vor ihm windet sich seine vorwärtsstürzende Silhouette durch die trockenen braunen Borsten.
Die Typen mit den Scheinwerfern haben Nick nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Feld erwischt. Während des Tages können wir kommen und gehen, wie wir wollen – bis jetzt hat noch niemand versucht, eine Straßensperre oder etwas Ähnliches zu errichten. Nachts herrschen jedoch andere Regeln. Ein paar Kinder aus der Siedlung haben wohl Nicks Zauberwürfel über den Zaun geschmissen. Er ist ihn suchen gegangen, war aber vorsichtig. Dann hat er die Leute mit den Scheinwerfern gesehen und sie aus der Ferne beobachtet. Doch er ist ihnen zu nahe gekommen. Nach Einbruch der Dunkelheit war es auf dem Feld zu gefährlich für ihn.
Dort lauerten Haie. Haie, die auf Gartenstühlen sitzen. Billige Alu-Klappstühle mit geflochtenen Sitzpolstern, die schief im Gras stehen. Gewehre sind daran angelehnt. Überall liegen leere silberne Bierdosen herum wie tote Fische. Von oben wird alles in grelles Licht getaucht, während unten dunkle Schatten das braune Feld durchkämmen. Wirkt fast wie eine fingierte Mondlandung, die sich hier jede Nacht auf dem Feld abspielt.
Der elektrische Generator für die Scheinwerfer steht auf zwei Rädern und hat vorne eine schlammverkrustete Anhängerkupplung. War wohl mal traktorgrün, aber mittlerweile ist er rostig und rußgeschwärzt, hat in all den wachsamen Nächten zu viele Abgase abgekriegt. Auf dem Generator erhebt sich ein leicht schiefer, ungefähr vier Meter hoher Turm aus Aluminium, der mit vier hellen Scheinwerfern bestückt ist.
Nick war klug genug, im Dunkeln zu bleiben. Tastete sich behutsam vor. Hat die Schweinwerfer im Auge behalten und im Gras nach der vertrauten Würfelform seines Spielzeugs gesucht. Er blieb im Dunkeln, doch das genügte nicht.
Jemand richtet einen Handscheinwerfer auf ihn, und er erstarrt. Hält die Hand gegen das blendende Licht und kneift die Augen zusammen. Doch außer dem grellen Licht kann er nichts erkennen. Anscheinend sagt jemand etwas zu ihm, denn im nächsten Moment dreht er sich um und läuft davon. Will sich zurück in die Siedlung retten.
Er kommt nicht weit.
Der Schein von Taschenlampen tanzt übers Gras. Nick rennt jetzt. Seine Turnschuhe durchschneiden Licht und Dunkel. Ich kann nur noch sehen, wie er Richtung Eden blickt, dann verwackeln die Aufnahmen. In der Ferne sieht er den Wohnwagen, aus dem warmes Licht fällt. Sein Zuhause. Dann packt ihn jemand von hinten, und er beginnt, sich heftig zu winden. Ein haariger Unterarm legt sich um seine Brust, danach ist kaum noch etwas auszumachen. Ein verschwommenes Durcheinander aus Haaren, Staub und Lampenschein, über das sich schließlich noch Tränen legen.
Die Welt, in der wir hier leben, wird täglich kleiner.
Ich kann förmlich spüren, wie sich der Schraubstock immer weiter schließt. Diese Männer auf den Feldern. Und eine ganze Armee von ihnen jenseits der Felder. Eine Nation aus Normalos, die Arm in Arm auf uns zumarschiert und jeden Tag einen Schritt näher kommt. Wir und die anderen Uplift-Siedlungen werden immer enger eingekreist, verwandeln uns immer mehr in Ghettos.
Lucy drückt fest meine Hand, hält den Blick aber die ganze Zeit auf
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