Das Implantat: Roman (German Edition)
Menschlichkeit behalten dürfen. Sechstausend heute sind nichts im Vergleich zu den unzähligen Millionen, die noch geboren werden. Ohne mich wird eine ganze Generation von Kindern um ihre Chance gebracht, ihr Leben so zu leben, wie Gott es gewollt hat: als menschliche Wesen.«
Vaughn hält inne, um sich seine feucht gewordenen Augen mit einem weißen Stofftaschentuch abzuwischen. Kurz verzerrt irgendeine schreckliche Erinnerung seine Züge, wie ein lebendes Wesen, das verrückt vor Schmerzen ist. Dann gewinnt er seine Fassung wieder.
»Unglücklicherweise«, fährt er fort, »hast du diese Chance schon verloren. Andere jedoch nicht.«
»Ich gestehe gar nichts.«
Mit weit geöffneten, wachen Augen betrachtet Vaughn mich. Schließlich erhebt er sich von seinem Stuhl und lächelt mich schief an. »Eigentlich bin ich froh, dass du nicht einfach so mitspielst. Es gibt etwas, das ich dir unbedingt mitteilen muss. Du bist nicht der Einzige, den ich hierher habe bringen lassen. Die Dame mit den Sommersprossen ist eine echte Schönheit, findest du nicht? Und wie mir gesagt wird, hat ihr deformierter Sohn eine Menge Persönlichkeit.«
Ich kann spüren, wie sich mein Herz in meiner Brust ausdehnt. Über alles scheint sich eine kühle Taubheit zu legen.
»Dank meiner Bemühungen sind Lucy und der kleine Nicholas jetzt Bewohner der offiziellen Sicherheitszone von West-Pittsburgh. Und nun stell dir folgende Szene vor, Amp. Auf meinen Befehl hin dringt eins der pflichteifrigen Mitglieder von Elysium in die Sicherheitszone ein. Er zerrt Mutter und Sohn aus ihren Betten und in die Nacht hinaus, um sie zu befragen. Jenseits des Stacheldrahtzauns steckt er der Mutter den kalten Lauf seiner Pistole in den Mund. Dann drückt er ab, und das Gehirn der guten Frau verteilt sich von Kopf bis Fuß über ihren eigenen Sohn.«
Unwillkürlich zucke ich vor Schreck zusammen. Vaughn scheint sich an meinem Entsetzen zu laben.
»Oh, aber mach dir keine Sorgen«, fügt er hinzu. »Den Jungen erschießt er nicht. Stattdessen holt er eine Zange hervor und reißt dem Kleinen damit sein Implantat raus. Und diesmal meine ich das ganze Implantat. Zerrt es aus dem überentwickelten Hirn des Jungen und lässt ihn so zurück – als einen elternlosen, sabbernden Pflegefall. Nun, wie würde dir das gefallen?«
Ich spanne meine Muskeln an und fühle die Handschellen.
»Und für dich sieht es auch nicht gut aus. Die Beamten hier haben nicht viel übrig für Amps. Kann man ja verstehen, bei all den schrecklichen Anschlägen. Also spazierst du entweder mit mir hier raus und legst dein Geständnis ab, oder dich und deine kleine Familie erwartet ein ganz anderes Schicksal. Du siehst: Entweder machst du dich nützlich, oder du machst überhaupt nichts mehr.«
»Nein«, murmle ich, während mein Puls in meinen Ohren hämmert. »Nein.«
Dreißig Sekunden kriechen vorbei. Wie ein Schwarm Mücken summen meine Gedanken in meinem Kopf herum. Die Welt hat sich auf zwei Optionen reduziert. Ich kann entweder einem Massenmörder trauen oder sterben. Oder … diese Tür in meinem Kopf öffnen. Mich in denselben dunklen Wald hinauswagen, der schon Lyle verschluckt hat.
Vaughn schlendert zur Tür. Klopft dreimal.
»Statt über deine Gefangennahme werde ich die Öffentlichkeit wohl doch über deine Tötung in Kenntnis setzen müssen. Vielleicht ist das auch besser so. Ich habe den Verdacht, die Leute werden mich dafür noch mehr lieben als für ein Geständnis. Wer weiß, vielleicht kandidiere ich für die Präsidentschaft.«
Die Tür öffnet sich. Vaughn schlüpft hinaus und nickt dabei den Wärtern zu.
Nun stehen der Kleine und der Große wieder in der Tür. Der Kleine hat ein fieses Grinsen im Gesicht. Der Große wirkt stoisch und resigniert und massiv wie eine Eiche.
»Endstation, Kumpel«, sagt der Kleine.
Ich schließe die Augen. Im Dunkeln stolpere ich zurück zu dem Raum mit der Frage. Die Worte warten immer noch ungeduldig auf mich, unerbittlich und fremd.
Level fünf. Vollständige sensorische Vernetzung. Langfristige Einsatzplanung. Kommandieren und koordinieren. Verbesserte Mobilität und Überlebensfähigkeit. Sind Sie einverstanden? Sind Sie einverstanden?
Ja, antworte ich dem Monstrum.
Ja, ja, ja. Hier hast du mein gottverdammtes Einverständnis. Hilf mir zu überleben, Technologie. Komm rein und mach’s dir gemütlich.
Etwas rastet ein.
Ich fühle mich nicht anders als vorher. Was ich dort in meinem Kopf auch aufgeweckt haben mag, es redet
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