Das Internat
Die umstrittene Bundesberufungsrichterin, die das Neunte Gericht mit ihren Entscheidungen in verschiedene Lager teilte? Oder die Person, die er gerade in ihrem Büro erlebt hatte, eine Frau mit einem eigenartigen Sex-Appeal und dunklem Lidschatten?
Jameson hatte das dumme Gefühl, dass vielleicht alles davon auf sie zutraf.
Und keines dieser Bilder passte zu dem kleinen Wildfang, der sich hinter Bäumen versteckt und ihn hemmungslos angespuckt hatte, als er sich ihr genähert hatte. Komisch, dass Ivy ihn die ganzen Jahre fasziniert hatte, ihre unerklärliche Schönheit und ihr mysteriöser Tod. Er hatte sich auf die falsche Frau konzentriert.
Als Jameson die Halbinsel erreicht hatte, nahm er den Weg an der Steilküste entlang. Die Rowe-Akademie lag am nördlichen Ende der Halbinsel, auf einem Grundstück, von dem aus man das Meer überblicken konnte. Die Stadt Tiburon, ein ruhiger Küstenort, der wie für eine Postkarte gemacht war, lag nur ein paar Meilen weiter die kurvige Straße hinunter.
Als Jameson durch die Eisentore fuhr, die am Eingang des grünen, hügeligen Campus standen, schaute er die Schilder, die zur Verwaltung, der Bücherei und der Kapelle wiesen, gar nicht an. Glücklicherweise wusste er genau, wohin er musste, war er doch in Gedanken immer noch mit dem morgendlichen Vorfall beschäftigt.
Das Letzte, was er erwartet hatte, als er in Matilda Smith' Gerichtssaal stürmte, war, einem Vamp zu begegnen. Er hatte eine hartherzige Killerin vor Augen, die weder Mata-Hari-Augen besaß noch wie Trauben glänzende Lippen. Was war da los?
Schutzfassaden hatten ihn immer fasziniert, besonders weil sie fast universell waren. Vielleicht war es Teil des Menschseins, die Enthüllung des versteckten Ichs zu fürchten, mit all seinen schamvollen Gefühlen und Sehnsüchten. Nur die ganz Kleinen, die nicht wissen, dass sie nackt sind, und die Sterbenden, die nichts mehr zu verlieren haben, riskierten es, den Zorn der Welt auf sich zu nehmen. Aber Mattie Smith schien keine Frau zu sein, die sich hinter ihrem Sex-Appeal versteckte. Im Gegenteil. Sie schien eher entschlossen, Männer zu verscheuchen, als sie zu verschlingen.
Er ließ das Auto neben der Ladezone stehen, in der er vor mehr als zwanzig Jahren den Lieferwagen geparkt hatte. Selbst die Rowe-Akademie hatte eine Schutzfassade, stellte Jameson fest. Die gotischen Hallen und hölzernen Fußböden hatten ihn immer an ein wunderschönes altes Schloss erinnert. Überall gab es wuchernde Grünflächen, dichte Bäume und verschlungene Pfade. Niemand würde an diesem Ort Leichen vermuten oder Korruption und Sexringe.
Der Weg führte ihn durch eine Reihe Pappeln, hinter denen er das Schulgebäude erkannte. Das mit Efeu berankte Mauerwerk war hufeisenförmig um einen großen Innenhof angelegt, in dem im Sommer die Kletterrosen an den Wänden rot, rosa und gelb blühten. In der Mitte des Hofes thronte eine zufriedene griechische Göttin mit Weintrauben im Arm über dem Brunnen. Große Steinbänke standen darum herum, jede von einem Gitter mit Weinranken umgeben.
Es war wie ein geheimer Garten, nur nicht ganz so unschuldig. Einige der Notizen in Billys Aufzeichnungen deuteten auf verschiedene Aspekte des Sexrings hin. Er schilderte einige verbotene Treffen, die in genau diesem Hof stattgefunden hatten. Offensichtlich konnte ein männlicher Kunde von einem der Fenster der Direktorin auf den Hof schauen, das Mädchen seiner Wahl aussuchen und Millicent Rowe den Rest überlassen. Leider erwähnte Billy die Namen dieser Kunden nicht. Entweder wusste er nicht, wer sie waren, oder er hatte sie bewusst nicht mit Namen genannt, möglicherweise wegen der Drohungen, die er erhalten hatte. Die Notizen enthielten Andeutungen, dass die beteiligten Schülerinnen die Stipendiatinnen waren, was Jameson sinnvoll erschien. Sie lebten im Internat, getrennt von ihren Familien und anderen Schutzmechanismen, sie waren leichte Opfer. Jameson warf einen Blick auf die Gebäude und stellte fest, dass Sommerferien waren und der Campus somit fast verlassen wirkte. Er bemerkte ein paar Jogger, die mehr wie Fakultätsmitglieder als Schüler aussahen. Nur in der Bücherei war etwas los. Sogar in den weiterführenden Schulen wurde schon rund ums Jahr recherchiert.
Jameson hoffte, dass einige Erinnerungen wach werden würden, als er weiterging. Kürzlich hatte er sich auf dem Campus aufgehalten, um mit dem Lehrkörper und den anderen Angestellten zu sprechen. Er hatte sie gebeten, sich an die
Weitere Kostenlose Bücher