Das Internat
Jameson hatte erwartet, dass er deswegen zur Wache bestellt oder einfach angerufen würde. Ein persönlicher Besuch schien ungewöhnlich, und wahrscheinlich erwartete Edwards, hereingebeten zu werden. Doch Jameson wollte nicht, dass der Polizist die Bänder sah. "Das weiß ich zu schätzen."
"Wir gehen davon aus, dass es ein Mord war", sagte er. "Ihr Bruder starb an Asphyxie. Er wurde erstickt, wahrscheinlich mit einem Kissen."
"Erstickt?" Zorn stieg in Jameson auf. Seine Hände waren mit einem Mal eiskalt. "Haben Sie zufällig auch Nachweise von Drogen gefunden?"
"Keine Drogen – zumindest keine illegalen, aber man fand Spuren eines Giftes namens Herzwein. Wenn der Mörder ihn vergiften wollte und das nicht funktioniert hat, war das Ersticken vielleicht ein letzter Ausweg."
Mit einem Kissen erstickt? Spuren von Herzwein im Nervensystem? Auf dieselbe Weise war die Direktorin gestorben.
"Ich weiß, dass sie bereits befragt worden sind", sagte Edwards. "Trotzdem habe ich noch ein paar Fragen."
"Ich komme zu spät zu einem Termin." Jameson brauchte Zeit, um die Neuigkeiten zu verarbeiten. "Kann ich nicht später auf der Wache vorbeikommen?"
"Morgen früh wäre gut. Heute Nachmittag bin ich ununterbrochen unterwegs."
Jameson stimmte zu und überlegte sich bereits eine Strategie. Er bezweifelte, dass der Detektiv viel über den früheren Fall wusste. Bestimmt ahnte Edwards nichts von den geheimnisvollen Details wie den Spuren von Herzwein, die in Miss Rowes Nervensystem gefunden worden waren. Jameson hatte nicht vor, ihm davon zu erzählen, auf jeden Fall jetzt noch nicht.
Nachdem er die Bänder gesichtet hatte, empfand Jameson etwas Mitleid für die Mädchen. Sie waren Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen gewesen, und es sah so aus, als ob sie absichtlich gedemütigt und missbraucht worden waren. Aber nicht nur das Leben seines Bruders war gewaltsam beendet worden. Sie waren auch krank genug gewesen, den Mord an der Direktorin zu wiederholen. Wenn sie es waren – ob nun eine oder jedes der einsamen Mädchen schuldig an einem so schändlichen Verbrechen war –, sie würden dafür bezahlen.
23. KAPITEL
R owe-Akademie
Winter 1981
Nichts gebrochen, außer vielleicht ein paar Rippen.
Mattie zuckte zusammen, als sie die weiche Masse unter ihrer linken Brust berührte. Die Schmerzen waren unerträglich. Immerhin wusste Mattie, dass es vorübergehen würde. Schon früher einmal hatte sie sich die Rippen gebrochen, damals war nach ein bis zwei Wochen alles geheilt. Jetzt lag sie ausgestreckt auf dem Bett im Schlafzimmer, die Augen geschlossen, und untersuchte den Rest ihres Körpers, so viel sie abtasten konnte, ohne aufzustehen.
Überall hatte sie Schwellungen und blaue Flecken. Ihr Mund war blutig. Sie konnte das Eisen schmecken. Sogar die Haut ihres Gesichts reagierte empfindlich bei der Berührung.
"Verdammte Bastarde." Sie stieß stöhnend die Worte hervor, überzeugend klang es nicht. Rachegedanken kosteten zu viel Kraft, und Mattie tat schon das Atmen weh.
In der Dunkelheit öffnete sie die Augen. Sofort war ihr klar, dass sie sich in ihrem kleinen Zimmer befand. Sie konnte den Sessel mit der abgeblätterten Farbe nicht sehen oder die Kommode mit dem fehlenden Griff. Aber sie konnte die Bananenschale auf dem Nachttisch neben dem Bett riechen, und wenn sie zu schnell aufstände, würde sie über einen Klamottenhaufen stolpern. Ihr Zimmer. Es konnte keine Preise für Ordnung gewinnen, besonders wegen des Krams, den Mattie unter die Matratze stopfte, aber es war ihres.
Als sie dort lag, zu verängstigt, um sich zu bewegen, wurde ihr bewusst, dass sie während der Züchtigung ohnmächtig geworden sein musste und dass sie jemand einfach hier abgelegt hatte. Sie würden das als Zeichen ihrer Niederlage werten. Trotzdem war Mattie nicht besiegt worden. Nichts konnte das. Nichts würde das jemals können. Sogar vom Tod würde sie nicht besiegt werden, solang ihr Geist nicht gebrochen wäre.
Irgendwann hatte sie erkannt, dass ein Teil von ihr unantastbar war, egal welcher Schaden ihr zugefügt wurde. Es gab einen Ort, an dem nichts Schlimmes passieren konnte. So konnte sie überleben. Jedoch konnte ihr dort auch nichts Gutes widerfahren. Sie zahlte einen Preis für diesen Schutz. Und trotzdem, ob es nun gut war oder schlecht, hatte sie sehr früh gelernt, sich auf nichts einzulassen, zumindest nicht auf den Feind. Sie konnte es nicht. Ein Teil von ihr weigerte sich, sich verführen, quälen oder
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