Das Ist Mein Blut
Kronauers Wohnung noch nicht angesehen?«, wollte Rainer wissen, während er sich in dem makellos sauberen Flur umsah und auf den glänzenden Fliesen feuchte und erdige Fußspuren hinterließ. »Du ziehst die besser aus«, riet Eva und antwortete dann: »Wahrscheinlich, weil Kronauer so selten zu Hause war – aber die Nürnberger Kollegen waren dort, wenn sich etwas Wichtiges ergeben hätte, hätten sie es uns mitgeteilt. Was meinst du – wahnsinnig ordentlicher Typ, die Baarer-Weiher, oder?«
Rainer musste an Klara Weiß’ Worte denken: eine Frau, die immer das Passende trägt und sagt und wahrscheinlich sogar denkt. Die Wohnung schien diesem Urteil Recht zu geben – geschmackvoll, ordentlich, eher modern eingerichtet, aber ohne kalt zu wirken. Hier und da gemütliche Nischen, und in einer Ecke des Wohnzimmers stand ein alter, abgenutzter Sessel mit von langem Gebrauch zerkratzten Holzbeinen, von denen das Furnier abblätterte. Darauf lag eine getigerte Katze, die die beiden Fremden in ihrem Reich mit ausdruckslosen Augen anstarrte, dann graziös aufstand, einen Buckel machte und aus dem Zimmer strich.
»Kronauer«, murmelte Rainer und zeigte auf ein gerahmtes Foto in einem Bücherregal. Es war eine Aufnahme, die ihn mit einem gleichzeitig befreit und ein wenig spöttisch wirkenden Lächeln auf einem steinernen Pier zeigte, hinter ihm eine Ahnung von blauem, schaumgekröntem Meer. Ein geschickt gestelltes Bild oder ein selten glücklicher Schnappschuss, der gleichzeitig künstlerisch und natürlich wirkte. Daneben ein Bild von Heinrich Weiher, auf dem dieser noch strenger und hagerer wirkte als in Wirklichkeit. Was hatte sie über die Beziehung zwischen Vater und Tochter eigentlich erfahren, überlegte Eva angestrengt. Dass der alte Mann nicht glücklich über ihre Scheidung gewesen war – vielleicht nur allzu natürlich für einen Mann seiner Generation – und dass Elisabeth entsetzt reagiert hatte, nachdem sie den Brief von Jakob Blumenthal gelesen und erfahren hatte, dass ihr Vater das Vertrauen des jüdischen Goldschmieds missbraucht hatte. Und Kronauer? Hatte Weiher ihn wirklich so wenig gekannt, wie er gesagt hatte?
»Hallo, bist du noch da, Eva?« Rainer wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. »Ich sagte, komm mal in ihr Arbeitszimmer.« Der Raum, in den er sie führte, unterschied sich stark von der übrigen Wohnung. Antike, dunkle Möbel standen darin, und der Computer wirkte auf dem schweren Schreibtisch beinahe fehl am Platz. Ihre Füße versanken fast in einem tiefen, weichen, roten Teppich. Auch in diesem Zimmer herrschte keineswegs Chaos, aber auf diversen Abstelltischen lagen Bücher herum, stellenweise mit Lesezeichen oder Post-its versehen, und auf dem Schreibtisch befanden sich eine Menge Papiere und ein Haufen bunter Kladden mit Essays von Studenten. »Wolltest du mir das zeigen? ›Zwischen Anpassung und innerer Emigration. Akademiker der Region zwischen 1933 und 1945‹? Ich will dich ja nicht enttäuschen, aber vom Hocker reißt mich das Thema nicht – arme Studenten.«
Rainer grinste pflichtschuldig, wandte sich dann aber einem Seitentisch zu, den Eva zuvor nicht bemerkt hatte. »Nachrichten auf dem Anrufbeantworter«, murmelte er.
»Ah, du bist heute wohl auf dem Entdeckertrip? Also, lass mal hören.«
Die beiden neuen Nachrichten stammten von diesem Vormittag: Um neun Uhr hatte eine Elektrofirma angerufen, um mitzuteilen, dass die eingeschickte Stereoanlage repariert sei und abgeholt werden könne. Die zweite war um 13.04 aufgesprochen worden und kam von Heinrich Weiher. Eva erkannte die trockene, alte Stimme sofort, der sie selbst an diesem Tag so lange zugehört hatte. Sie klang rau und zeugte von einer halb unterdrückten Emotion, ob es Sorge war oder Ärger oder etwas ganz anderes, ließ sich allerdings nicht so ohne weiteres sagen. »Hier spricht Heinrich Weiher. Elisabeth? Ich habe mehrfach versucht, dich zu erreichen. Ich möchte mit dir sprechen, aber vor allem wüsste ich gerne, wo du bist. Bitte rufe mich zurück, wenn du dies erhältst. Auf Wiederhören.«
»Ein Uhr. Da war sie gerade ins Krankenhaus eingeliefert worden«, murmelte Eva.
»Das heißt nicht, dass er als Täter für den Überfall nicht mehr in Frage kommt«, meinte Rainer. Er sprach damit das aus, was Eva gerade ebenfalls gedacht hatte, aber sie schüttelte den Kopf: »Auch der ist kein Typ fürs Garagendach. Wenn der Angreifer wirklich von da oben kam oder über das Dach geflüchtet ist, dann
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