Das italienische Maedchen
Mailand war. Diesen Sommer hat diese Frau mir erklärt, dass sie mit mir zusammenleben und sich von ihrem Mann scheiden lassen möchte. Das hat sie über meinen Kopf hinweg beschlossen, weil sie gemerkt hatte, dass sie mich liebt. Ich war entsetzt. Glaube mir, Rosanna, ich habe sie nie geliebt. Drei Wochen vor meiner Abreise nach London hat ihr Mann, der in Mailand großen Einfluss besitzt, mich besucht. Ich dachte, er will mich umbringen, aber er hat mir den Rat gegeben, mich von Italien fernzuhalten. Wenn ich zurückkehren würde, hätte das ausgesprochen unangenehme Folgen für mich. Deshalb kann ich nicht nach Italien, cara .« Roberto stützte den Kopf in die Hände. »Ich schäme mich so, Rosanna.«
Rosanna schwieg eine ganze Weile, bevor sie sagte: »Deswegen konntest du nicht zur Beerdigung deiner Mutter?«
»Ja. Und deshalb lässt sich unser Traum, gemeinsam Rodolfo und Mimì an der Scala zu singen, nicht verwirklichen. Ich würde viel dafür geben, es zu ändern.«
»Du weißt seit London, dass wir nicht nach Mailand zurückkehren?«, fragte Rosanna leise.
»Ja. Cara , ich wollte es dir sagen, aber mir war klar, wie sehr dich das aus der Fassung bringen würde.«
»Du hättest es mir früher gestehen sollen, Roberto. Du hast mir versprochen, mich niemals anzulügen. Diese … Frau, wie heißt sie?«
»Rosanna, bitte! Das tut nichts zur Sache.«
»Sag’s mir«, drängte Rosanna ihn.
»Donatella. Donatella Bianchi. Du kennst sie nicht.«
»O doch. Wie wir beide wissen, sind sie und ihr Mann großzügige Förderer der Scala. Sie haben der Chiesa Beata Vergine Maria einen hohen Betrag gespendet. Ich weiß sehr wohl, wer Donatella Bianchi ist«, entgegnete sie kühl.
»Bitte glaub mir«, flehte er. »Das mit Donatella ist vorbei.«
»Du sagst, die Affäre hätte vor fünf Jahren begonnen. Wir sind noch keine sechs Wochen zusammen, und schon hast du mir etwas verschwiegen.«
»Rosanna, die Sache ist vorbei. Sie war nicht wichtig. Wie stehst du dazu, allein nach Mailand zurückzukehren?«
»Ich kann nicht …« Rosannas Stimme bebte. »Das will ich mir nicht einmal vorstellen.« Sie stand auf und trat an das Geländer der Terrasse. »Warum meldest du nicht der Polizei, dass dieser Mann dich bedroht?«
»Das hat keinen Sinn. Du kennst ja Italien. Das ganze System ist korrupt. Bestimmt hat auch Giovanni keine weiße Weste. Ich hätte keine Chance gegen ihn und seine Beziehungen.«
»Meinst du, dass Signor Bianchi seine Drohung wahr machen würde?«
»Daran zweifle ich nicht.«
»Was ist mit Paolo? Was wirst du ihm sagen?«
»Jedenfalls nicht die Wahrheit. Ich werde Chris bitten, ihm zu erklären, dass ich eine Pause brauche, dass meine Stimme sich erholen muss, etwas in der Art. Egal. Den Gedanken, dass du ohne mich nach Mailand fährst, finde ich unerträglich, aber natürlich kann ich dich nicht daran hindern. Du musst sogar.«
Rosanna hatte Tränen in den Augen. »Wie sieht es aus, wenn ich allein nach Italien reise? Dann fühlen die Leute sich doch in ihrem Urteil über dich bestätigt. Den tatsächlichen Grund kann ich ihnen nicht verraten, also werden sie glauben, dass unsere Ehe bereits den Bach runtergeht. Möglicherweise haben sie sogar recht.«
»Nein!« Roberto sprang auf und trat zu ihr. »Bitte, Rosanna, sag das nicht.«
»Was soll ich sonst sagen? Dass mich deine Affäre mit einer verheirateten Frau freut, deren Mann dich mit dem Tod bedroht? Dass es mich freut, allein, ohne meinen frischgebackenen Ehemann, Wochen in Mailand verbringen zu müssen? Dass ich mich über deine Lüge freue? Ist das zu fassen? Ich …« Rosanna eilte ins Innere der Villa. Kurz darauf hörte Roberto die Schlafzimmertür zuschlagen.
Er atmete aus und füllte sein Glas aus der halbvollen Weinflasche. Eine solche Reaktion war zu erwarten gewesen. Er hatte es nicht besser verdient.
Rosanna lag auf dem Bett, ein Kissen auf dem Gesicht. Das wunderschöne traumähnliche Gefühl der vergangenen Wochen war mit einem Schlag dahin.
Ihr frisch angetrauter Ehemann hatte ihr nicht nur eine schmutzige Affäre gestanden, sondern auch verkündet, dass er deshalb nicht nach Italien könne. Es würde keine triumphale gemeinsame Rückkehr nach Neapel zu ihren Familien geben, weder jetzt noch in Zukunft. Das hatte Roberto von Anfang an gewusst.
Und die Scala … La Bohème . Wie oft hatte sie sich ausgemalt, mit ihm zusammen den Beifall des begeisterten Premierenpublikums entgegenzunehmen? Bis September hatte sie mehrere
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