Das Jagdgewehr
hätte ich sicher, sogar im Traum, begierig gewünscht, schnell aufzuwachen. Ich war damals – so wie Shoko-san jetzt – zwanzig Jahre alt. Der Schock für eine junge, vom Leben nichts ahnende Frau, die gerade geheiratet hat, war ohne Zweifel allzu groß. Ich rief sofort nach dem Boy, der mich sehr erstaunt ansah, bezahlte mit möglichst unbefangener Miene die Rechnung und eilte sofort hinaus, weil ich keinen Augenblick länger im Zimmer sitzen konnte. Als ich dann auf dem Pflaster vor dem Hotel stand, durchstach meine Brust ein heißer, gleichsam rotglühender Schmerz, und ich überlegte kurz, ob ich ans Meer hinunter oder zum Bahnhof gehen sollte. Schließlich schlug ich den Weg zum Strande ein, aber nach ein paar Metern hielt ich erneut inne. Ich starrte hinaus auf das tiefwinterliche Meer, das in der Sonne so strahlend blau leuchtete, als habe man aus einer Farbtube Preußischblau darauf gedrückt. Nach einer Weile drehte ich dem Wasser meinen Rücken und richtete, nun anders entschlossen, meine Schritte zu dem Bahnhof, der in der entgegengesetzten Richtung lag. Heute bin ich mir klar, daß mich dies hierher und zu dieser Stunde geführt hat. Wäre ich zum Strand hinuntergegangen, wo Sie waren, stünde ich heute als ein anderer Mensch da. Doch ich tat es nicht – mag dies mein Glück oder Verhängnis gewesen sein. Zweifellos bedeutete es den großen Wendepunkt in meinem Leben.
Aus welchem Grunde bin ich wohl damals nicht zum Strand hinunter gegangen? Es war der folgende. Ich hatte immerzu das Gefühl, daß ich der schönen, fünf, sechs Jahre älteren Frau – also meiner Cousine Saiko – in jeglicher Hinsicht unterlegen war. Sowohl in bezug auf Lebenserfahrung, als auch an Wissen, Talenten, Schönheit, Zartheit der Empfindung, an der Anmut, eine Tasse Kaffee zu halten, an der Fähigkeit, Musik zu genießen, über Literatur zu plaudern, das Gesicht zurechtzumachen – in allem, allem war sie mir weit überlegen! Ach, wie wertlos ich mir damals vorkam. Es war das tiefe Unterlegenheitsgefühl einer jungverheirateten, zwanzigjährigen Frau, das ein Maler nur in einer ›reinen Linie‹ zum Ausdruck bringen könnte. Vielleicht haben Sie das Gleiche auch schon einmal empfunden, wenn Sie an einem frühen Herbsttag ins Meer gesprungen sind und sich nicht zu bewegen wagten, weil Sie die stechende Kälte des Wassers sonst allzu schmerzhaft gefühlt hätten. Ebenso fürchtete auch ich mich, irgendeine Bewegung zu machen. Erst sehr viel später habe ich den kühnen Entschluß gefaßt: da Sie mich betrogen haben, werde auch ich Sie fortan betrügen!
Sie und Saiko-san warteten einmal im Wartesaal Zweiter Klasse des Bahnhofs Sannomiya auf einen Schnellzug nach Tokyo. Ich glaube, es war dies ungefähr ein Jahr nach dem Erlebnis im Atami-Hotel. Ich befand mich mitten in einer Gruppe von blütenhaft schönen Schulmädchen, die sich zu einem Klassenausflug versammelt hatten, und ich überlegte angestrengt hin und her, ob ich den Wartesaal betreten sollte oder nicht. Und ebensowenig werde ich jene andere Nacht vergessen können, als ich lange vor dem verschlossenen Tor von Saikos Haus stand und nicht wußte, ob ich läuten sollte. Die Grillen zirpten laut, und ich schaute immerfort zu dem Zimmer im ersten Stock hinauf, wo durch eine kleine Spalte im Vorhang ein sanftes Licht nach außen drang. Ich glaube, dies war ungefähr zur gleichen Zeit wie jenes Zusammentreffen in Sannomiya, aber ich weiß nicht mehr, ob es damals Frühling oder Herbst war. Bei solchen Erinnerungen fehlt mir immer das Gefühl der Jahreszeit. Ach, es gab noch viele ähnliche Episoden, die, wenn ich sie Ihnen jetzt erzählte, Sie stark verstimmen würden. Aber schließlich raffte ich mich doch nicht zu einer Entscheidung auf. Sogar in Atami war ich ja nicht zum Strand hinuntergegangen! Selbst damals nicht! Doch wenn heute das Bild des preußischblau glitzernden Meeres vor meine Augen tritt, ich an jenen Anblick denke, der mir einst so weh tat, nimmt der Schmerz, der mir damals unerträglich erschienen war, seltsam und so leise ab, als löste man hauchdünne Papierschichten sacht voneinander.
Aber es gab eine Periode in meinem Leben, wo ich wirklich glaubte, ich würde den Verstand verlieren. Doch nun hat ja wohl die Zeit alles zwischen Ihnen und mir in Ordnung gebracht. Sie sind langsam immer kälter zu mir geworden, so wie rotglühendes Eisen allmählich, aber sicher abkühlt. Und weil auch ich mich dann so verhielt, wurden Sie immer eisiger, und so
Weitere Kostenlose Bücher