Das Jahr auf dem Lande
er ein paar Hürden bauen lassen. Wir haben leider keinen Wassergraben, aber es ist trotzdem ganz lustig. Probier es doch einmal!«
Und so war Jo zu den Holdens hinübergeritten, diesmal in tadellosen Reithosen, gefolgt von Sheikh, den man allerdings nicht eingeladen hatte. Der Reitplatz war ein Traum für jeden Amateurreiter, mit schönem Rasen und interessanten Hindernissen. Beth war ebenfalls in Reitkleidung und hielt ihr nervös tänzelndes Vollblutpferd am Zügel.
»Hast du es gut!« meinte Jo und sah sich neidisch um.
»Ja, aber ich bin keine sehr gute Reiterin, und Diamond kann diesen Busch dort nicht ausstehen. Er verweigert jedesmal, wenn ich ihn dazu bringen will, darüberzuspringen. Ich vermisse Lester sehr. Er hat mir immer geholfen, meine Pferde zu trainieren.«
Der Held ohne Fehl und Tadel, dachte Jo, der soviel Tugend allmählich auf die Nerven ging. Sie ritt eine Runde, und Rajah nahm jede Hürde mit Bravour. Es störte ihn nicht einmal, daß Sheikh neben ihm herhüpfte. Als Jo dann aus dem Sattel glitt, sah Lester sie zum erstenmal, ein schlankes, graziles Mädchen, das sich lässig an Rajahs Hals lehnte und den Kopf der Dogge streichelte. Er war keineswegs beeindruckt. Gewiß, sie war hübsch, aber längst nicht so »phantastisch«, wie Beth behauptet hatte. Er fand, daß sie Theater spielte. Das Landmädchen, komplett mit Hund und Pferd... Sie spielte ihre Rolle gut, aber er bevorzugte natürliche, einfache Menschen wie seine »kleine Beth«.
Seine Ankunft störte das idyllische Bild, denn Sheikh erhob sich und knurrte den Fremden eindrucksvoll an, bereit, ihm auf Befehl seiner Herrin an die Kehle zu springen. Als er diesen Befehl nicht erhielt, ließ er sich mit einem Seufzer ins Gras zurücksinken.
»Lester, wie schön, daß du gekommen bist!« rief Beth erfreut. »Das ist Jo Medway, das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe. Jo — das ist Lester.«
»Der Junge, von dem du mir erzählt hast«, bemerkte Jo provokant. Es war unmöglich, diesem großen, gutaussehenden Mann, der sie mit der typischen Rangimarie-Arroganz musterte, nicht provokant gegenüberzutreten. Er schätzte sie ebenso falsch ein wie sie ihn, denn wenn Jo auch viele Fehler hatte, so liebte sie es keineswegs zu posieren. Doch wie sehr sie einander verkannten, sollten sie erst später herausfinden. Jetzt lächelte Lester dünn und sagte: »Beth hat sich schon immer eindrucksvolle Freundinnen ausgesucht.«
»Tut mir leid, daß ich Sie enttäuscht habe«, erwiderte Jo.
Beth merkte erschrocken, daß ihre beiden Idole sich anscheinend nicht sonderlich sympathisch waren, und so schaltete sie sich hastig ein. »Lester, ich habe gerade gesagt, wie sehr ich dich vermisse, wenn ich Diamond trainiere. Er will einfach nicht über diesen Busch dort springen. Und dabei weiß ich, daß er es kann.«
»Du mußt ihn eben dazu zwingen«, sagte er mit einem liebevollen Lächeln, das Jo einigermaßen irritierte.
»Versuchen Sie’s doch!« sagte sie. »Ich reite voran, wenn Sie wollen.«
»Vielen Dank, aber vielleicht schaffe ich’s nicht, und dann würde ich mich unsterblich vor Beth blamieren.«
Aber seine Kusine war nicht bereit, so schnell aufzugeben. »Bitte, Lester! Ich bin überzeugt, daß er dir gehorcht. Und dann wird er bei mir auch nicht mehr verweigern. Komm, sei kein Spielverderber!«
Er lachte. »Ich weiß nicht, warum du glaubst, daß du mit dieser Bemerkung meinen männlichen Stolz herausforderst, doch ich gebe mich geschlagen. Sei aber bitte nicht enttäuscht, wenn ich deine Hoffnungen nicht erfülle.« Er schwang sich in den Sattel, und Jo folgte seinem Beispiel. Sie wollte auf die erste Hürde zureiten, aber Lester rief: »Nein, wir nehmen gleich den Busch. Es ist zu einfach, mit dem niedrigsten Hindernis anzufangen.«
Jo runzelte die Stirn, aber sie sagte nichts. Zumindest würde sie ihm zeigen, daß sie reiten konnte. Sie sprengte auf den Busch zu, und dann geschah etwas Erstaunliches. Rajah, der noch vor einer halben Stunde elegant über den Busch gesprungen war, verweigerte plötzlich, und Jo wäre beinahe aus dem Sattel gefallen. Als sie wieder sicher auf dem Pferderücken saß, ritt Lester an ihr vorbei, und Diamond nahm in einem hohen Sprung das Hindernis. Wütend flüsterte Jo in Rajahs Ohr: »Wenn du es jetzt nicht schaffst, kannst du was erleben.«
Sie wußte nicht, ob Rajah sich diese Drohung zu Herzen nahm oder ob Diamonds meisterhafter Sprung seinen Ehrgeiz geweckt hatte, jedenfalls sprang er ebenso
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