Das Jahr der Flut
Alterung, anreisten, um geschält, gefestigt und gelasert, bestrahlt und entpigmentiert wieder abzureisen.
Allerdings nicht weniger verängstigt, denn wann würde das ganze Problem − diese
leidige
Sache
− wieder von vorne losgehen? Diese Sache mit der Sterblichkeit? Diese
ganze Sache überhaupt.
Niemand findet es angenehm, dachte Toby, nur Körper zu sein, ein Ding zu sein. Niemand möchte diese Beschränkungen. Lieber hätten wir Flügel. Selbst das Wort
Fleisch
klingt irgendwie schon matschig.
Wir verkaufen nicht nur Schönheit, sagte der AnuYu-Konzern bei seinen Mitarbeiterschulungen. Wir verkaufen Hoffnung.
Einige Kunden konnten durchaus anspruchsvoll sein. Sie wollten nicht einsehen, dass nicht einmal die fortschrittlichsten AnuYu-Behandlungen sie nicht wieder in 21-Jährige verwandeln würden. »In unseren Labors wird mit Hochdruck an der Altersumkehrung gearbeitet«, sagte Toby dann beschwichtigend, »aber sie brauchen noch etwas Zeit. In ein paar Jahren …«
Wenn du wirklich für immer so alt bleiben wirst, wie du jetzt bist, dachte sie dann immer, versuch’s doch mal mit einem Sprung vom Dach: Es gibt keine bessere Methode, die Zeit anzuhalten.
*
Toby gab sich größte Mühe, eine gute Chefin zu sein. Sie leitete den Spa-Betrieb mit Effizienz, sie hörte sowohl Mitarbeitern als auch Kunden genau zu, sie schlichtete bei Auseinandersetzungen, sie sorgte auch bei ihrem Team für Effizienz und Diskretion. Ihre Erfahrungen als Eva Sechs kamen ihr oft zugute: Schon damals hatte sie ein Talent dafür entwickelt, andächtig schweigend ihr Gegenüber anzuschauen, als wäre sie außerordentlich interessiert. »Denken Sie daran«, sagte sie zu ihren Kolleginnen, »jede Kundin will sich wie eine Prinzessin fühlen, und Prinzessinnen sind nun mal selbstsüchtig und anmaßend.« Spuckt ihnen bloß nicht in die Suppe, wollte sie raten, aber damit hätte sie sich zu weit von ihrer Rolle als Tobiatha entfernt.
An den aufreibendsten Tagen hielt sie sich damit bei Laune, das Spa als großes Boulevardmagazin zu betrachten.
Leiche von Gesell
schaftsdame leblos auf dem Rasen gefunden, Experten vermuten giftige Substan
zen in Gesichtsmaske. Knollenblätterpilz vera
ntwortlich für Tod durch Frucht
säurepeeling. Tragödie am Pool: Die Angst schwimmt mit.
Aber was konnten die Damen schon dafür? Sie wollten sich doch nur gut fühlen und glücklich sein wie alle anderen auf der Welt. Der Krampfader-und Bauchspeckwahn sei ihnen doch gegönnt. »Die Welt durch die rosarote Brille sehen«, sagte sie nach dem Vorbild der AnuYu-Mitarbeiterschulung zu ihren Mädchen und auch zu sich selbst. Warum auch nicht? Auf jeden Fall besser als gelb werden vor Neid.
Nach einer Phase der Vorsicht begann sie, ein paar Vorräte abzuzweigen − einen privaten Ararat zu bauen. Ob sie an die wasserlose Flut glaubte, wusste sie nicht genau − mit der Zeit schienen ihr die Gärtner und ihre Theorien immer fremder, verwegener, kreativer − mit einem Wort, verrückter −, aber sie glaubte immer noch genug daran, um rudimentäre Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen. Da sie für das Inventar des Spa zuständig war, fiel das Hamstern leicht. Sie holte sich einfach die leeren Behälter, immer mehrere auf einmal, wieder aus den Recyclingcontainern raus − die Behälter mit der AnuYu-Entschlackungskur waren wegen der Größe und der Schnappdeckel besonders geeignet − und füllte sie mit SojaBits, getrockneten Algen, Milchersatzpulver oder Sojadinendosen. Dann kamen die Deckel wieder drauf und die Behälter ins hinterste Regal. Ein paar der Mitarbeiter kannten den Türcode, aber Toby stand in dem Ruf, die Vorräte streng zu kontrollieren und mit Dieben hart ins Gericht zu gehen, insofern war es unwahrscheinlich, dass sich jemand mit ihren aufgefüllten Behältern aus dem Staub machte.
*
Sie hatte ein eigenes Büro, und in diesem Büro stand ein Computer. Sie wusste, welche Gefahren das Surfen mit sich brachte − ihre Gesuche und Korrespondenzen hätten ja von irgendeinem AnuYu-Funktionär überwacht werden können, der kontrollierte, ob sich die Belegschaft die Arbeitszeit mit Pornos vertrieb −, also sichtete sie an den meisten Tagen das Internet nur nach Nachrichten im Allgemeinen, in der Hoffnung, auf diese Weise etwas über die Gärtner in Erfahrung zu bringen.
Groß war die Ausbeute nicht. Von Zeit zu Zeit wurde über subversive Aktionen einer Gruppe grüner Fanatiker berichtet, aber solche Gruppen gab es inzwischen recht viele. Während der
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