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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Boston Coffee Party, bei der Happicuppa-Bohnen in den Hafen gekippt wurden, glaubte sie, in der Menge das ein oder andere Gärtnergesicht zu erkennen, aber sie hätte sich auch täuschen können. Einige trugen T-Shirts mit der Aufschrift
G ist G
, Gott ist Grün, was keinerlei Beweis war; zu ihrer Zeit hatte kein Gärtner ein solches T-Shirt getragen.
    Das CorpSeCorps hätte den Happicuppa-Krawallen ein Ende setzen können. Es hätte mit seinen Spraygewehren die Menge mitsamt den in der Nähe aufgestellten Fernsehteams niedermähen können. Zwar ließ sich die Berichterstattung über Ereignisse wie diese nicht ganz und gar verhindern: Die Leute hatten ja ihre Handykameras. Dennoch blieb die Frage, warum das CorpSeCorps nicht öffentlich einschritt, vor aller Augen einen Großangriff auf den Gegner startete und seine totalitäre Herrschaft unverhohlen geltend machte? Schließlich waren sie die Einzigen, die über Waffen verfügten. Jetzt nach der Privatisierung hatten sie sogar die Armee unter ihre Kontrolle gebracht.
    Sie hatte Zeb einmal dazu befragt. Offiziell, sagte er, sei das CorpSeCorps ein privates Sicherheitsunternehmen, das im Dienst der großen Konzerne stand, und diese Konzerne wollten weiterhin als ehrlich und vertrauenswürdig angesehen werden, freundlich wie Gänseblümchen, harmlos wie Häschen. Sie konnten es sich nicht leisten, vor dem Durchschnittsverbraucher als verlogene, herzlose, tyrannische Schlächter dazustehen.
    »Die Konzerne müssen verkaufen, aber zum Kaufen zwingen können sie die Leute nicht«, hatte er gesagt. »Noch nicht. Ein sauberes Image gilt immer noch als Muss.«
    Das war die knappe Antwort: Niemand wollte, dass sein Happicuppa-Kaffee nach Blut schmeckte.
    *
    Muffy, ihre Trüffelzellenbetreuerin, blieb mit Toby in Kontakt, indem sie für Kosmetikbehandlungen ins AnuYu kam. Hin und wieder brachte sie Neuigkeiten: Adam Eins gehe es gut, Nuala lasse grüßen, die Gärtner dehnten ihren Einflussbereich immer weiter aus, doch die Situation sei instabil. Gelegentlich brachte sie einen Flüchtling vorbei, eine Frau, die vorübergehend versteckt werden musste. Sie besorgte der Frau ähnliche Kleider wie ihre eigenen − satte mütterliche SolarSpace-Farben wie Pastellblau und Cremeweiß − und schrieb sie für Behandlungen ein. »Einfach rauf mit dem Schlamm und Handtücher drüber, und kein Mensch merkt was«, sagte sie dann, und sie hatte recht.
    Zu diesen Notfall-Gästen zählte auch der Hammerhai. Toby erkannte den Hammerhai wieder − die zappeligen Hände, die durchdringenden, märtyrerhaft blauen Augen −, aber der Hammerhai erkannte Toby nicht wieder. Also hatte sie sich doch kein ruhiges Leben in Oregon gemacht, dachte Toby. Sie ist immer noch in der Gegend, bringt sich in Gefahr, ist ständig auf der Flucht. Am wahrscheinlichsten war es, dass sie von der städtischen Grünenguerilla-Szene verschluckt wurde; in dem Fall waren ihre Tage gezählt, denn das CorpSeCorps war angeblich sehr darauf erpicht, sämtliche dieser Aktivisten auszuschalten. Bestimmt besaßen sie auch die Proben ihrer alten HelthWyzer-Identität, und wer einmal im System war, kam nie wieder frei, allenfalls als Leiche, deren DNA und Gebiss mit den Unterlagen übereinstimmten.
    Toby ordnete für den Hammerhai die Komplett-Aromatherapie und eine zusätzliche Tiefenporen-Entspannung an. Sie sah aus, als könnte sie sie gebrauchen.
    *
    Eine ernsthafte Gefahr allerdings bestand bei AnuYu: Lucerne gehörte zu den Stammkundinnen. Jeden Monat tauchte sie in einem ihrer Managerfrauenfummel auf. Sie wählte immer die Tiefenreinigung, die Pfirsichhaut-Aufpolsterung und die Jungbrunnen-Komplettimmersion. Sie war besser angezogen als damals bei den Gärtnern − was ja nicht sehr schwer war, dachte Toby, denn selbst in einer Plastiktüte war man besser angezogen als eine Gärtnerin −, wirkte zugleich aber auch älter und verhärmter. Trotz des vielen Collagens und der Pflanzenextrakte, die, wie Toby wusste, in sie hineingepumpt wurden, hing ihre einstmals üppige Unterlippe schlaff herunter, und ihre Augenlider hatten die runzlige Beschaffenheit von Mohnblüten angenommen. Diese Verfallserscheinungen verschafften Toby eine gewisse Genugtuung, auch wenn es sie betrübte, derart kleinliche Eifersuchtsgefühle zu hegen.
Gib’s auf, sagte sie zu sich. Nur weil sich Lucerne in einen alten Bovist verwandelt, muss das nicht heißen, dass du noch immer jung und knackig bist.
    Es wäre natürlich verheerend, wenn Lucerne auf

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