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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Ohren gekommen; nein, sie hat mal als Kind was darüber gelesen, in einem Kinderbuch über Elefanten. Die Elefanten hatten sich um ihre Toten versammelt, ernst, fast meditativ. Dann hatten sie Zweige und Erde verstreut.
    Aber Schweine? Normalerweise fraßen sie ihre Toten, genau wie alles andere. Aber dieses hier nicht. Haben die Schweine etwa ein Begräbnis gefeiert? Hatten sie etwa Blumengebinde gebracht? Ein äußerst erschreckender Gedanke, findet sie.
    Aber warum nicht?, sagt die gütige Stimme von Adam Eins. Wir glauben doch, dass die Tiere eine Seele haben. Warum sollten sie keine Begräbnisse feiern?
    »Du bist verrückt«, sagt sie laut.
    Es stinkt nach Verwesung: Der Würgereiz ist schwer zu unterdrücken. Sie hält sich den Kragen ihres UV-Mantels vor die Nase. Mit der anderen Hand nimmt sie ihren Stiel und stochert an dem toten Eber herum: Maden brodeln hervor. Sie sehen aus wie riesige graue Reiskörner.
    Sag dir einfach, es sind Landkrabben, sagt Zebs Stimme. Sie haben dieselbe Struktur.
    »Du schaffst das«, sagt sie zu sich. Für den nächsten Schritt muss sie Gewehr und Stiel ablegen. Sie schaufelt die wimmelnden weißen Maden in den Plastikbehälter hinein. Einige verliert sie dabei, ihre Hände zittern. In ihrem Kopf dröhnt es wie von winzigen Bohrmaschinen, oder sind das nur die Fliegen? Sie zwingt sich zu langsamen Bewegungen.
    Donnergrollen in der Ferne.
    Sie dreht dem Wald den Rücken zu und geht über die Wiese zurück. Sie rennt nicht.
    Sind die Bäume näher gerückt? Es wirkt fast so.
     
    60.
Ren. Jahr Fünfundzwanzig
     
    Eines Tages tranken wir Champagner, und ich sagte: »Lass uns unsere Nägel machen, die sind ja ’ne Katastrophe.« Ich glaubte, das würde uns vielleicht aufheitern. Amanda lachte und sagte: »Stimmt, nichts versaut einem die Nägel wie ’ne tödliche Pandemie«, aber wir machten sie uns trotzdem. Amandas waren in einem orangerosa Ton namens Satsuma-Parfait, meine waren Turbohimbeer. Wir waren wie zwei aufgedrehte kleine Mädchen, die mit Fingerfarben spielen. Ich liebe den Duft von Nagellack. Ich weiß ja, Nagellack ist giftig, aber er riecht so sauber. Frisch, wie gestärktes Leinen. Danach ging es uns wirklich besser.
    Wir tranken noch ein Glas Champagner, und ich hatte noch eine gute Laune-Idee und lief nach oben. Es gab nur einen Raum, in dem noch jemand lag − nämlich Starlite in unserem alten Zimmer. Ich fühlte mich schrecklich wegen ihr, aber ich hatte die Tür mit Bettlaken verstopft, damit der Geruch im Zimmer blieb, und ich konnte nur hoffen, dass die Mikroben ordentlich reinhauen würden, um Starlite ganz schnell in was anderes zu verwandeln. Aus dem leeren Zimmer von Savona und aus dem von Feuerblüte holte ich die Biofilmstrümpfe und Kostüme, eine ganze Armladung voll, und brachte sie nach unten, und wir fingen an, sie anzuprobieren.
    Die Strümpfe mussten erst mit Wasser und dem Skinfood-Gleitspray eingesprüht werden − sie waren total vertrocknet −, aber danach ließen sie sich anziehen wie immer, und schon spürte man den angenehmen Saugeffekt, während sich die lebenden Zellen mit der Haut verbanden, und dann das warme atmungsaktive Prickeln. Lässt nichts als Sauerstoff rein und nichts als natürliche Ausscheidungen raus, stand immer auf dem Etikett. Das Gesichtsteil hatte sogar Nasenlöcher. Echte Haut und Natur wären vielen Scales-Kunden lieber gewesen, wenn es sicher gewesen wäre, aber mit dem Biostrumpf konnten sie entspannen, denn so wussten sie, dass sie keine Todkranke gekauft hatten.
    »Fühlt sich total genial an«, sagte Amanda. »Fast wie ’ne Massage.«
    »Soll gut sein für den Teint«, sagte ich, und wir lachten noch mehr. Dann zog sich Amanda ein Flamingokostüm mit rosa Federn an und ich einen Pfaureiheranzug, und wir machten Musik und die Lichtorgel an und fingen an zu tanzen. Amanda konnte immer noch super tanzen, da flogen echt die Federn. Aber ich war inzwischen besser als sie, weil ich so viel Übung hatte, auch am Trapez; und sie merkte es. Und das freute mich.
    Es war schon blöd von uns, die ganze Tanzerei: Wir hatten die Musik total laut aufgedreht, sie schallte aus der offenen Tür, und wir waren echt nicht zu überhören. Aber darüber machte ich mir keine Gedanken. »Ren, du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt«, sagte Toby immer zu mir als kleines Mädchen. Damit wollte sie sagen, dass man Rücksicht auf andere nehmen soll. Nur glaubte ich jetzt tatsächlich, ich wäre der einzige Mensch auf der Welt.

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