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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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rüsten, um unseren schützenden Ararat zu verlassen, lasst uns einander fragen: Was bringt mehr Segen, essen oder gegessen werden? Flucht oder jagen? Geben oder nehmen? Denn eigentlich geht es um dieselbe Frage. Eine solche Frage wird vielleicht bald nicht mehr nur theoretisch sein: Wir wissen nicht, welche Alpha-Räuber draußen lauern.
    Lasst uns beten, dass wir das Heilige erkennen mögen, das darin liegt, unsere eigenen Eiweiße zu opfern und unter unseren Mitgeschöpfen in Umlauf zu bringen. Wir möchten lieber verzehren, als verzehrt werden, andernfalls wären wir keine Menschen, beides aber ist ein Segen. Sollte euch nach dem Leben getrachtet werden, seid versichert, dass das Leben auch nach euch trachtet.
    Lasst uns singen.

 
    DIE SPITZMAUS REISSET IHRE BEUTE
     
    Die Spitzmaus reißet ihre Beute,
    Weil’s ihr die Natur so sagt;
    Ohne Vorsatz und Berechnung
    Schreitet sie zur Tat.
     
    Der Leopard in tiefster Nacht
    Folgt wie das Kätzchen seinem Ruf
    Zu jagen, was ihm köstlich ist,
    Weil Gott ihn so erschuf.
     
    Wer weiß, ob Freude oder Furcht
    Einander etwas abverlangen,
    Ob Beutetiere unablässig
    Um ihr Leben bangen?
     
    Wir jedoch sind keine Tiere:
    Uns ist alles Leben heilig:
    So sehen wir den Fleischverzehr
    Zumeist als unverzeihlich.
     
    Doch wenn die Hungersnot uns treibt
    Und wir dem Fleische nachgegeben −
    Möge Gott uns gnädig sein
    Und das Verzehrte segnen.
     
    Aus dem
Gesangbuch der Gottesgärtner

 
    62.
Toby. Sankt Nganeko Minhinnic von Mankau, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Ein roter Sonnenuntergang, das heißt, es wird noch Regen geben. Aber das wird es ja ohnehin. Nebel steigt auf.
    Uudl-uudl-uh. Uudl-uudl-uh. Tschilp. Twariep. Ah ah ah. Ai ai ai. Huhm huhm baruhm.
    Trauertaube, Rotkehlchen, Krähe, Blauhäher, Ochsenfrosch. Toby spricht die Namen aus, aber den Tieren bedeuten die Namen nichts. Ihre eigene Sprache wird ihr bald abhandengekommen sein, und mehr als das wird sie nicht mehr im Kopf haben. Uudl-uudl-uh, huhm huhm. Die Endlosschleife, das Lied ohne Anfang und ohne Ende. Keine Fragen, keine Antworten, nicht in vielen und nicht in wenigen Worten. In gar keinen Worten. Oder ist alles nur ein einziges gewaltiges Wort?
    Woher stammt dieser Gedanke, aus dem Nichts, wie kommt er in ihren Kopf?
    Tobiiii!
    Es klingt beinahe, als riefe jemand ihren Namen. Aber es sind nur die Vögel.
    *
    Sie ist oben auf dem Dach und bereitet sich in der kühlen Morgenluft ihre tägliche Portion Landkrabben zu. Die einfachen Speisen des heiligen Euell sind nicht zu verachten, sagt die Stimme von Adam Eins. Der Herr gibt, und manchmal sind das, was er gibt, eben Landkrabben, sagt Zebs Stimme. Reich an Lipiden und Proteinen. Oder was glaubst du, warum die Bären so fett werden?
    Der Dämpfe und Hitze wegen kocht es sich am besten im Freien. Zum Einsatz kommt der im Geiste von Sankt Euell improvisierte Campingkocher aus einem leeren Bodylotionkanister: ein Loch im Boden für trockene Zweige und Luft, ein Loch auf der Seite, damit der Rauch abziehen kann. Maximale Hitze bei minimalem Brennstoff. Gerade so viel wie nötig. Die Landkrabben brutzeln auf dem Deckel vor sich hin.
    Plötzlich schlagen die Krähen Alarm: Aus irgendeinem Grund sind sie aufgeregt. Es sind keine Warnrufe, also keine Eule. Eher Verblüffung:
Ah ah! Schaut! Schaut! Schaut’s euch an!
    Toby kratzt sich die knusprigen Landkrabben vom Deckel ihrer Blechdose auf den Teller − Lebensmittel verschwenden heißt Leben verschwenden, sagte Adam Eins immer −, löscht die Flammen mit einem Topf Regenwasser und wirft sich bäuchlings aufs Dach. Hebt ihr Fernglas. Die Krähen kreisen um die Baumwipfel, ein ganzer Schwarm. Sechs oder sieben.
Ah! Ah! Schaut! Schaut! Schaut!
    Zwei Männer kommen zwischen den Bäumen hervor. Sie singen nicht, und sie sind weder nackt noch blau: Sie sind bekleidet.
    Es gibt also doch noch Menschen, denkt Toby. Menschen, die am Leben sind. Vielleicht ist Zeb dabei, vielleicht sucht er sie: Er hat sich bestimmt gedacht, dass sie noch hier ist, dass sie sich hier versteckt hat, hier ausharrt. Sie muss blinzeln: Ihr kommen doch wohl nicht die Tränen? Am liebsten würde sie nach unten rennen, hinaus ins Freie, ihre Arme zum Willkommensgruß ausstrecken, vor Freude lachen. Doch die Vorsicht hält sie zurück, und sie hockt sich stattdessen hinter das Abzugsrohr der Klimaanlage und späht durch das Dachgeländer.
    Es könnte eine Sinnestäuschung sein. Bildet sie sich schon wieder etwas ein? Die Männer tragen

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