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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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langer Zeit feierten wir den Tag des Räubers auf unserem herrlichen Dachgarten Felsen Eden. Unsere Kinder legten ihre Räuberohren und -schwänze aus Kunstpelz an, und bei Sonnenuntergang zündeten wir in den aus Blechdosen gefertigten Löwen, Tigern und Bären Kerzen an, die mit ihren feurig funkelnden Augen auf unser Räuberfestmahl blickten.
    Heute aber muss unser Feiertag in den inneren Gärten unseres Geistes abgehalten werden. Wir können uns glücklich schätzen, dass uns immerhin noch diese geblieben sind, denn die wasserlose Flut hat sich nun über unsere Stadt, ja über den ganzen Planeten gewälzt. Die meisten wurden davon überrascht, wir aber bauten auf geistige Führung. Oder um es materialistischer auszudrücken: Wir haben sie gleich als globale Pandemie erkannt.
    Lasst uns dankbar sein für diesen Ararat, der uns in diesen letzten Monaten Schutz geboten hat. Es ist vielleicht kein Ararat, wie wir ihn uns aus freien Stücken ausgesucht hätten, hier in den Kellerräumen des Buenavista-Hauses, die schon zu Pilars Pilzzeiten feucht waren, nun aber noch feuchter geworden sind. Doch welch ein Segen, dass uns so viele unserer Verwandten, die Ratten, Eiweiße gespendet und unser Verweilen auf dieser Erde gesichert haben. Nicht minder glücklich der Umstand, dass Pilar in ebendiesem Keller, versteckt hinter einem Betonblock mit einem kleinen Bienensymbol, einen Ararat eingerichtet hatte. Wie günstig, dass so viele ihrer Vorräte ihre Frische bewahrt haben! Wenn auch traurigerweise nicht alle.
    Diese Ressourcen aber sind jetzt erschöpft, und wir müssen entweder umziehen oder verhungern. Lasst uns beten, dass die Außenwelt nun keine Außenhölle mehr sei, dass die wasserlose Flut nicht nur vernichtet, sondern auch gereinigt habe, und dass die ganze Welt nun ein neuer Garten Eden sei. Oder zumindest, dass sie bald einer sein wird. Darauf wollen wir vertrauen.
    *
    Am Tag des Räubers feiern wir Gott nicht als liebenden Vater und sanftmütige Mutter, sondern als Tiger. Oder als Löwen. Oder als Bären. Oder als wilden Eber. Oder als Wolf. Ja sogar als Hai. Ganz gleich, wie das Symbol aussieht, der Tag des Räubers feiert die Vorzüge der erschreckenden Erscheinung und der überwältigenden Kraft, die wir von Zeit zu Zeit begehren und die daher genauso gottgegeben sein müssen, wie alle guten Dinge von Ihm gegeben sind.
    Als Schöpfer hat Gott − wie könnte es anders sein? − allen seinen Geschöpfen etwas von Seinem eigenen Wesen mitgegeben, und so sind Tiger, Löwe, Wolf, Bär, Eber und Hai − ja selbst die Allerkleinsten wie Spitzmaus und Gottesanbeterin − auf ihre Weise ein Spiegel des Göttlichen. Durch alle Epochen hindurch haben das die Menschen gewusst. Ihre Flaggen und Wappen schmückten sie nicht etwa mit Kaninchen und Mäusen, sondern mit Tieren, die töten können, und wenn Gott in seiner Schutzfunktion heraufbeschworen wurde, waren es etwa nicht diese Eigenschaften, auf die man sich berief?
    Und so meditieren wir am Tag des Räubers über die räuberischen Aspekte Gottes. Über die Plötzlichkeit und Schärfe, mit der uns ein Begriff des Göttlichen ereilen kann; über unsere Kleinmütigkeit und Ängstlichkeit − um nicht zu sagen, unsere Ähnlichkeit mit den Mäusen − im Angesicht einer solchen Macht; über unser Gefühl der individuellen Auslöschung in der Strahlkraft dieses herrlichen Lichts. Gott durchstreift im zarten Morgengrauen die Gärten des Geistes, doch pirscht Er auch durch seine nächtlichen Wälder. Er ist kein zahmes Geschöpf, meine Freunde: Er ist ein wildes Tier und lässt sich nicht rufen und befehligen wie ein Hund.
    Mag sein, dass die Menschen den letzten Tiger und den letzten Löwen getötet haben, doch ihre Namen werden von uns in Ehren gehalten; und wenn wir ihre Namen aussprechen, so hören wir dahinter die donnernde Stimme Gottes im Augenblick ihrer Erschaffung. Gott muss zu ihnen gesagt haben: Meine Fleischfresser, ich befehle euch, zu tun, was ihr tun müsst, und Beutetiere zu erlegen, damit sich diese nicht im Übermaß vermehren, ihre Nahrungsvorräte erschöpfen, krank werden und aussterben. Zieht also los! Springt! Lauft! Brüllt! Lauert! Fallt an! Denn eure gefürchteten Herzen, das Gold und Grün eurer Augen, eure wohlgestalten Sehnen, eure Fänge und Klauen, die ich selbst euch gab, sind mir ein Wohlgefallen. Und ich segne euch und sage, dass ihr gut seid.
    Denn sie suchen ihre Speise von Gott, wie es in Pslam 104 so trefflich heißt.
    *
    Während wir

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