Das Jahr der Flut
und nach rechts und liefen durch die kleinen Gassen, um unsere Spuren zu verwischen. Spuren waren ein Problem − der ganze Boden war von einer Schlammschicht bedeckt −, aber Shackie meinte, der Regen würde unsere Fußstapfen verwischen, und außerdem waren die Goldenen ja keine Hunde, die unsere Witterung aufnehmen konnten.
Es mussten dieselben drei Painballer sein, die in der ersten Flutnacht im Scales randaliert hatten. Und die Mordis umgebracht hatten. Sie hatten mich auf der Videoanlage gesehen. Deswegen waren sie zurück ins Scales gekommen − um die Klebezone wie eine Auster aufzubrechen und mich rauszuholen. Sie hätten Werkzeug gefunden. Es hätte vielleicht eine Zeit gedauert, aber am Ende hätten sie es geschafft.
Bei dem Gedanken wurde mir eiskalt, aber ich sagte den anderen nichts davon. Die hatten so schon genug Sorgen.
*
In den Straßen lag sehr viel Müll − verbrannte Sachen, kaputte Sachen. Nicht nur Autos und Lastwagen. Auch Scherben − extrem viele Scherben. Shackie warnte uns, genau hinzusehen, bevor wir ein Gebäude betraten: Einmal sei direkt in ihrer Nähe ein Haus eingestürzt. Wir sollten uns von den hohen Gebäuden fernhalten, weil die Flammen daran gefressen haben könnten, und wenn einem ein Glasfenster auf den Kopf fiel, dann war’s das. Im Wald sei es zurzeit sicherer als in der Stadt. Früher dachte man genau umgekehrt.
Die normalen kleinen Sachen machten mir am meisten zu schaffen. Ein Terminkalender, in dem sich die Einträge in nichts auflösten. Die Mützen. Die Schuhe − die waren noch schlimmer als die Mützen, und noch schlimmer war es, wenn es zwei Schuhe auf einmal waren. Die Spielsachen. Die Kinderwagen ohne Kinder.
Das Ganze sah aus wie ein auf den Kopf gedrehtes und zertrampeltes Puppenhaus. Aus einem der Läden und den Gehweg entlang zog sich eine Spur von bunten T-Shirts wie riesige Fußstapfen aus Stoff. Irgendjemand muss das Schaufenster eingeschlagen und den Laden ausgeräumt haben, aber was wollte jemand mit einem Haufen T-Shirts? Ein Möbelgeschäft spuckte Stuhllehnen und Stuhlbeine und Lederpolster auf den Gehweg, und da war ein Brillengeschäft mit sehr modischen Gestellen in Gold und Silber − die hatte keiner haben wollen. Eine Apotheke war von irgendwelchen Leuten auf der Suche nach Partydrogen verwüstet worden. Es lagen sehr viele OrgassPluss-Behälter rum. Die waren eigentlich noch in der Testphase, aber der Laden hatte sie anscheinend schwarz verkauft.
Überall lagen Kleiderfetzen und Knochen. »Ex-Personen«, sagte Croze. Sie waren ausgetrocknet und ausgenommen worden, aber die Augenhöhlen waren schrecklich. Und die Zähne − Münder sehen ohne Lippen ziemlich schlimm aus. Und die Haare, so strähnig und lose. Haare brauchen ewig, um zu verwesen; das hatten wir bei den Gärtnern in Kompostierkunde gelernt.
Wir hatten keine Zeit gehabt, aus dem Scales was zu essen mitzunehmen, also gingen wir in einen Supermarkt. Auf dem Boden lag jede Menge Zeug, aber wir fanden noch ein paar ZizzyFroot-Dosen und ein paar Kickriegel, und in einem anderen Laden stand eine Solartiefkühltruhe, die noch immer funktionierte. In der Truhe waren Sojabohnen und Beeren − die wir sofort aßen − und ein Sechserpack Tiefkühl-GeheimBurger.
»Und wie sollen wir die braten?«, fragte Oates.
»Feuerzeuge«, sagte Shackie. »Guck.« Auf der Theke stand ein kleines Regal mit Feuerzeugen in Froschform. Shackie probierte eins aus: Die Flamme schoss aus dem Mund, und es machte Quak.
»Nimm mal ’ne Handvoll mit«, sagte Amanda.
*
Inzwischen waren wir fast schon in Sinkhole, also machten wir uns auf den Weg zur alten Wellness-Klinik, immerhin kannten wir uns in dem Gebäude aus. Ich hatte die Hoffnung, dass wir dort vielleicht noch den ein oder anderen Gärtner antreffen würden, aber das Haus war leer. Wir setzten uns in eines unserer alten Klassenzimmer zum Picknicken: Aus kaputten Schulbänken machten wir ein Feuer, wenn auch kein sehr großes, schließlich wollten wir den goldenen Painballern keine Rauchzeichen senden, aber die Fenster mussten wir doch aufmachen, weil wir zu sehr husten mussten. Wir brieten die GeheimBurger und aßen sie, dazu die Hälfte der Sojabohnen − aber ohne sie extra zu kochen − und tranken unsere ZizzyFroots. Oates spielte die ganze Zeit mit dem Froschfeuerzeug rum und quakte, bis Amanda sagte, er soll damit aufhören, so was sei Gasverschwendung.
Der Adrenalinschub vom Weglaufen war inzwischen abgeflaut. Es war traurig, wieder
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