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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Tarnanzüge. Der Mann an der Spitze hat eine Art Waffe − ein Spraygewehr vielleicht. Zeb ist es auf keinen Fall: falsche Körperform. Keiner davon ist Zeb. Da ist noch eine andere Person − Mann oder Frau? Groß, ganz in Khaki, mit hängendem Kopf; schwer zu sagen, welches Geschlecht. Hände vor dem Körper gefaltet wie zum Gebet. Einer der Männer hält diese Person am Arm oder Ellenbogen. Schiebt oder zieht sie mit sich.
    Dann taucht ein anderer Mann aus den Schatten auf. Er führt einen großen Vogel an der Leine − nein, an einem Seil −, eine Art Reiher mit blaugrün irisierenden Federn. Aber der Vogel hat einen Frauenkopf.
    Ich halluziniere, denkt Toby. Die Genspleißer mögen ja allerhand können, aber so weit sind wir dann doch noch nicht. Die Männer und die Vogelfrau sehen relativ echt und substanziell aus, aber ist es nicht genau das, was eine Halluzination auszeichnet?
    Einer hat etwas über die Schulter geschlungen. Erst hält sie es für einen Sack, aber nein, es ist die Keule eines Tiers. Mit Fell bedeckt. Goldenem Fell. Ist es ein Löwamm? Ein Schauer des Entsetzens läuft ihr über den Rücken: Welch ein Sakrileg! Diese Leute haben ein Tier von der Friedensreichliste getötet!
    Reiß dich am Riemen, sagt Toby zu sich. Erstens, seit wann bist du Friedensreich-Jesajaistin? Zweitens, wenn diese Männer echt sind und nicht nur die Ausgeburt deines verwirrten Geistes, dann haben sie auch noch andere Tiere getötet. Große Tiere getötet und gemetzelt, das heißt, dass sie tödliche Waffen bei sich tragen und am oberen Ende der Nahrungskette angefangen haben. Sie sind eine Bedrohung, sie werden vor nichts haltmachen, und ich sollte sie erschießen, bevor sie hier sind. Dann kann ich den Riesenvogel, oder was immer es ist, befreien, bevor sie auch ihn umbringen.
    Und wenn sie nicht echt sind, spielt es auch keine Rolle, wenn ich sie erschieße. Sie werden sich einfach in Rauch auflösen.
    Da blickt der Mann, der die Vogelfrau am Seil führt, nach oben. Er muss Toby entdeckt haben, denn er fängt an zu schreien und mit der freien Hand zu winken. Eine Messerklinge blitzt auf. Die beiden anderen Männer schauen hin, dann traben sie geschlossen auf das Gebäude zu. Das Vogelwesen wird am Seil hinterhergezerrt, und jetzt erkennt Toby, dass die Federn eine Art Kostüm darstellen. Es ist eine Frau. Ohne Flügel. Mit einer Schlinge um den Hals.
    Also doch keine Halluzination. Sondern Wirklichkeit. Die finstere Wirklichkeit.
    Sie nimmt den Mann mit dem Messer ins Visier und schießt. Er taumelt nach hinten, brüllt und stolpert. Aber sie ist nicht schnell genug, und obwohl sie noch mehrmals abdrückt, erwischt sie die beiden anderen Männer nicht.
    Jetzt steht der verwundete Mann wieder auf, humpelt ein Stück, und alle laufen sie zurück in den Wald. Die Vogelfrau am Seil läuft mit. Was bleibt ihr anderes übrig. Dann fällt sie hin und sinkt in die Gräser.
    Hinter den anderen öffnet sich das grüne Laub, und sie werden verschluckt. Sie sind weg. Alle zusammen. Sie sieht nicht, wo die Frau gestürzt ist: Die Gräser stehen zu hoch. Soll sie draußen nach ihr suchen? Nein. Es könnte eine Falle sein. Dann wären es drei gegen eins.
    Lange schaut sie hin. Die Krähen müssen den Männern und der Person im Khakianzug gefolgt sein. Ah ah ah ah. Ein leises Krächzen in der Ferne.
    Werden sie zurückkommen? Was sonst, denkt Toby. Sie wissen, dass ich hier bin, sie können sich denken, dass ich Lebensmittel habe, wenn ich bis jetzt überlebt habe. Außerdem habe ich auf einen von ihnen geschossen: Sie werden auf Rache sinnen, das ist nur menschlich. Genau wie die Schweine werden sie nachtragend sein. Aber so bald werden sie nicht wieder auftauchen, denn sie wissen, dass ich ein Gewehr habe. Erst mal brauchen sie einen Plan.
     
    63.
Toby. Sankt Wen Bo, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Keine Männer. Auch keine Schweine. Kein Löwämmer. Keine Vogelfrau.
    Vielleicht habe ich den Verstand verloren, denkt Toby. Nicht verloren. Vorübergehend verlegt.
    Es ist Zeit zum Baden; sie ist oben auf dem Dach. Sie gießt das Regenwasser aus ihrer Ansammlung kleiner Schüsseln und Töpfe in die größte Schüssel, seift sich ein, aber nur Gesicht und Hände: Sie wird sich nicht der Gefahr eines Vollbads aussetzen, denn wer weiß, wer ihr zuschaut? Sie ist gerade im Begriff, die Seife abzuwaschen, als sie ganz in der Nähe die Krähen hört. Ah ah ah! Diesmal klingt es wie Gelächter.
    Toby! Toby! Hilf mir!
    War das mein Name?, denkt

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