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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Toby. Sie sieht übers Geländer, kann nichts entdecken. Aber da ist sie wieder, die Stimme, direkt vor dem Gebäude.
    Ist es eine Falle? Eine Frau, die nach ihr ruft, den Arm eines Mannes um den Hals, ein Messer an der Halsschlagader?
    Toby! Ich bin’s! Bitte!
    Mit dem Handtuch tupft sie sich trocken, schlüpft in ihren UV-Mantel, schultert das Gewehr und begibt sich die Treppe hinunter. Öffnet die Tür: niemand. Doch da ist sie wieder, die Stimme, ganz nah.
Oh bitte!
    Linke Ecke: niemand. Rechte Ecke: niemand. Sie steht vor dem Gartentor, als eine Frau um das Gebäude biegt. Sie humpelt, sie ist dünn und zerschunden; die langen, mit Dreck und getrocknetem Blut verfilzten Haare hängen ihr ins Gesicht. Sie trägt einen Körperstrumpf mit Pailletten und feuchten zerrupften blauen Federn.
    Die Vogelfrau. Bestimmt aus irgendeinem bizarren Sexlokal. Sie ist sicher infiziert, die wandelnde Seuche. Wenn sie mich berührt, denkt Toby, bin ich tot.
    »Bleib mir vom Leib!«, ruft sie. Sie steht jetzt mit dem Rücken zum Gartenzaun. »Verpiss dich, und zwar schnell.«
    Die Frau wankt. Sie hat eine Schnittwunde am Bein und ihre nackten Arme sind zerkratzt und blutig – sie muss durchs Gestrüpp gerannt sein. Toby kann an nichts anderes denken als an das frische Blut, brodelnd vor Mikroben und Viren.
    »Hau ab! Verschwinde!«
    »Ich bin nicht krank«, sagt die Frau. Die Tränen laufen ihr übers Gesicht. Aber genau das hatten in ihrer Verzweiflung ja alle gesagt. Hatten ihr flehend die Hände entgegengestreckt, trostsuchend, bevor sie zu rosa Pudding zerliefen. Toby hatte sie vom Dach aus beobachtet.
    Euch werden Ertrinkende begegnen. Lasst nicht zu, dass sie sich an euch festklammern. Ihr dürft nicht ihr Strohhalm sein, meine Freunde, sagte Adam Eins.
    Das Gewehr. Sie hantiert mit dem Riemen: Er hat sich im Stoff ihres UV-Mantels verfangen. Wie soll sie diesen eiternden Gefahrenherd abwehren? Brüllen ohne Waffe bringt gar nichts. Vielleicht einen Stein gegen den Kopf schlagen, denkt Toby. Aber sie hat keinen Stein. Einen festen Tritt gegen den Solarplexus und dann Füße waschen.
    Du bist lieblos, sagt Nualas Stimme. Du schmähst die Geschöpfe Gottes, denn was ist der Mensch, wenn nicht Gottes Geschöpf?
    Hinter ihrer Haarmatte fleht die Frau: »Toby! Ich bin’s!« Sie knickt ein und fällt auf die Knie. Da sieht Toby, dass es Ren ist. Unter all dem Dreck und zerdrückten Flitter ist es nur die kleine Ren.
     
    64.
     
    Toby schleppt Ren ins Haus und lässt sie auf den Fußboden fallen, um hinter sich die Tür abzuschließen. Ren weint noch immer hysterisch, atemlos schluchzend.
    »Ist ja schon gut«, sagt Toby. Sie packt Ren unter den Achseln und zieht sie hoch, und zusammen stolpern sie den kleinen Flur hinunter und hinein in eine der Behandlungskabinen. Ren ist ein Totgewicht, aber sie ist nicht sehr schwer, und es gelingt Toby, sie auf einen der Massagetische zu hieven. Sie riecht nach Schweiß und Erde und entfernt nach Blut – und noch nach etwas anderem: Verwesung.
    »Bleib hier«, sagt Toby unnötigerweise. Ren wird sicherlich nicht weglaufen. Ihr Kopf liegt auf dem rosafarbenen Kissen, die Augen sind geschlossen. Sie hat ein Veilchen. AnuYu-Aloe-Sanfte-Augenpads, denkt Toby. Mit extra viel Arnika. Sie reißt ein Päckchen auf, appliziert die Augenpads und deckt Ren mit einem weiteren Laken zu. Sie schlägt die Ränder ein, damit Ren nicht vom Tisch fällt. Ren hat eine Schnittwunde an der Stirn und eine an der Wange: nichts Gravierendes; um die wird sie sich später kümmern.
    Sie geht in die Küche, bringt in ihrem Kellykessel etwas Wasser zum Kochen. Wahrscheinlich ist Ren dehydriert. Sie gießt heißes Wasser in eine Tasse, fügt ein wenig von ihrem geliebten Honig und eine Messerspitze Salz hinzu und ein paar getrocknete Frühlingszwiebeln aus ihrem schwindenden Vorrat. Sie bringt die Tasse in Rens Kabine, nimmt ihr die Augenpads ab und hilft ihr, sich aufzusetzen.
    Rens Augen sind riesengroß in ihrem mageren lädierten Gesicht. »Ich bin nicht krank«, sagte sie, wobei das nicht stimmt: Sie brennt vor Fieber. Aber Krankheit ist nicht gleich Krankheit. Toby kontrolliert die Symptome: Es sickert kein Blut aus den Poren, kein Schaum tritt vor den Mund. Dennoch könnte Ren die Seuche haben, sie könnte sie gerade ausbrüten; in dem Fall hätte sich Toby bereits angesteckt.
    »Versuch, was zu trinken«, sagt Toby.
    »Ich kann nicht«, sagt Ren. Aber immerhin schafft sie einen kleinen Schluck. »Wo ist

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