Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
weniger zu Besuch. Ich bin überhaupt nicht wie die.«
    »Natürlich nicht«, sagte Amanda lächelnd. Sie tätschelte mir den Arm. »Komm mal hier rüber. Ich will dir was zeigen.«
    *
    Und dann nahm sie mich mit in die kleine Gasse, die zum Hinterhof vom Scales and Tails führte. Wir Gärtnerkinder durften da eigentlich nicht hin, aber wir gingen trotzdem, denn wenn man den Pennern zuvorkam, gab es jede Menge Essigwein abzugreifen.
    Die kleine Gasse war gefährlich. Das Scales and Tails war eine üble Kaschemme, sagten die Evas. Wir sollten uns davor hüten, vor allem die Mädchen. Über der Tür stand in Neonbuchstaben »Privatclub«, und die Tür wurde von zwei riesigen Männern in schwarzen Anzügen bewacht, die trotz der Dunkelheit Sonnenbrillen aufhatten. Angeblich hatten diese Männer zu einem der älteren Gärtnermädchen gesagt: »Komm in einem Jahr wieder und bring deinen süßen Knackarsch mit.« Aber Bernice meinte, das Mädchen hätte nur angeben wollen.
    Links und rechts neben dem Eingang vom Scales hingen Bilder − Leucht-Holofotos. Auf den Bildern waren hübsche Mädchen, die am ganzen Körper, außer den Haaren, mit grün glänzenden Schuppen bedeckt waren wie Eidechsen. Eines der Mädchen stand auf einem Bein und hatte sich das andere um den Hals geschlungen. Das musste doch wehtun, so dazustehen, dachte ich, aber das Mädchen auf dem Bild lächelte.
    Waren die Schuppen angewachsen oder angeklebt? Bernice und ich waren unterschiedlicher Meinung. Ich sagte, angeklebt, Bernice sagte, angewachsen, weil die Mädchen operiert worden seien, wie mit Bimplantaten. Niemand würde das machen lassen, sagte ich zu Bernice. Aber insgeheim glaubte ich ihr ein bisschen.
    Einmal sahen wir am helllichten Tag ein schuppiges Mädchen durch die Gasse rennen, gejagt von einem Mann im schwarzen Anzug. Sie glitzerte auffällig wegen ihrer grün glänzenden Schuppen; sie hatte ihre hohen Schuhe abgestreift und lief barfuß, wich hier und da den Leuten aus, aber dann trat sie in eine Glasscherbe und fiel hin. Der Mann holte sie ein, hob sie hoch und trug sie mit baumelnden grünen Armen zurück ins Scales. Ihre Füße bluteten. Immer wenn ich daran dachte, lief es mir kalt den Rücken runter.
    *
    Am Ende der Gasse neben dem Scales war ein kleiner quadratischer Hof für die Mülltonnen − für den Kohlenstoff-Boilermüll und den anderen Müll. Dann war da noch ein Bretterzaun, und auf der anderen Seite war ein leeres Grundstück, auf dem irgendwann mal ein Gebäude abgefackelt worden war. Jetzt war da nur noch festgetretene Erde mit Zementstücken, Glasscherben und Unkraut.
    Manchmal hingen da die Plebsratten ab und starteten einen Angriff, wenn wir beim Umfüllen der Weinflaschen waren. »Gottesgärtner, Schrottesgärtner!«, riefen sie, schnappten sich unsere Eimer und rannten damit weg oder kippten sie uns über den Kopf. Das war Bernice mal passiert, und sie stank noch tagelang nach Wein.
    Wenn wir Unterricht im Freien hatten, gingen wir machmal mit Zeb auf dieses leere Grundstück: Er sagte immer, es sei der Ort, der in unserem Plebs noch am ehesten an eine Wiese erinnere. Wenn er dabei war, ließen uns die Plebslerkinder in Ruhe. Zeb war wie ein privater Haustiger: zahm zum Besitzer, gefährlich für alle anderen.
    Einmal fanden wir da ein totes Mädchen. Sie hatte keine Haare und war nackt: Nur noch ein paar grüne Schuppen klebten an ihrer Haut. Angeklebt, dachte ich. Oder so ähnlich. Jedenfalls nicht angewachsen, also hatte ich recht.
    »Vielleicht nimmt sie ein Sonnenbad«, sagte einer der älteren Jungs, und die anderen kicherten gehässig.
    »Fasst sie nicht an«, sagte Zeb. »Ein bisschen Respekt! Der Unterricht findet heute auf dem Dachgarten statt.« Als wir das nächste Mal dort Unterricht im Freien hatten, war sie nicht mehr da.
    »Ich wette, die ist zu Boilermüll verarbeitet worden«, flüsterte mir Bernice ins Ohr. Boilermüll war der Abfall aus allen möglichen Kohlenstoffen − Schlachthausabfällen, verfaultem Gemüse, Restaurantabfällen, sogar Plastikflaschen. Die Kohlenstoffe kamen in einen Boiler, und am Ende kam Öl und Wasser dabei raus und dazu alles, was aus Metall war. Offiziell waren die Boiler nicht für Leichen gedacht, aber die Kinder machten sich immer einen Spaß daraus. Öl, Wasser und Hemdknöpfe. Öl, Wasser und goldene Kugelschreiberspitzen.
    »Öl, Wasser und grüne Schuppen«, flüsterte ich Bernice zu.
    *
    Auf den ersten Blick war auf dem Grundstück niemand zu sehen. Keine

Weitere Kostenlose Bücher