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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Penner, keine Plebsratten, keine toten nackten Frauen. Amanda führte mich in die hinterste Ecke zu einer flachen Zementplatte. Eine Sirupflasche lehnte dagegen, eine aus Plastik, zum Drücken.
    »Guck mal hier«, sagte Amanda. Sie hatte mit dem Sirup ihren Namen auf die Platte geschrieben, und eine Flut von Ameisen machte sich über die Buchstaben her, so dass jeder Buchstabe aus schwarzen Ameisen bestand. So erfuhr ich Amandas Namen − ich sah ihn zum ersten Mal in Ameisenschrift. Amanda Payne.
    »Cool, oder?«, sagte sie. »Willst du deinen Namen auch mal schreiben?«
    »Wozu machst du das?«, fragte ich.
    »Weil’s lustig ist«, sagte Amanda. »Man schreibt was, und das Wort wird aufgefressen. Also ist man erst da, und dann ist man weg. So kann einen niemand finden.«
    Warum mir das einleuchtend erschien? Ich weiß es nicht, aber es war so. »Wo wohnst du?«, fragte ich.
    »Ach, hier und da«, sagte Amanda wegwerfend. Mit anderen Worten, sie wohnte nirgendwo direkt: Sie schlief in irgendeinem besetzten Gebäude, im besten Falle. »Früher hab ich in Texas gewohnt.«
    Sie war also ein Flüchtling. Nach den Orkanen und dann der Dürre waren überall viele texanische Flüchtlinge aufgetaucht. Die meisten davon waren illegal. Jetzt konnte ich Amandas Interesse am Verschwinden verstehen.
    »Du kannst mitkommen und bei mir wohnen«, sagte ich. Es entschlüpfte mir einfach.
    In dem Moment quetschte sich Bernice durch das Loch im Zaun. Sie hatte eingelenkt und war wiedergekommen, um mich abzuholen, nur dass ich diesmal nicht wollte.
    »Ren! Was
machst
du da!«, rief sie. Auf ihre typisch zielstrebige Art stapfte sie über das Grundstück. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass sie zu große Füße hatte, dass ihr Körper zu eckig und ihre Nase zu klein war und dass ihr Hals eigentlich länger und dünner hätte sein müssen. Mehr wie der von Amanda.
    »Da kommt eine Freundin von dir, wie’s aussieht«, sagte Amanda lächelnd. Am liebsten hätte ich gesagt: Sie ist nicht meine Freundin, aber dazu war ich nicht mutig genug.
    Mit rotem Gesicht trat Bernice auf uns zu. Sie lief immer rot an, wenn sie wütend war. »Komm jetzt, Ren«, sagte sie. »Du sollst mit der nicht reden.« Sie entdeckte Amandas Quallenarmband, und ich sah ihr an, dass sie es genauso gern gehabt hätte wie ich. »Du bist böse«, sagte sie zu Amanda. »Du Plebsratte!« Sie hakte mich unter.
    »Das ist Amanda«, sagte ich. »Sie kommt mit, um bei mir zu wohnen.«
    Erst dachte ich, Bernice würde einen ihrer Wutanfälle bekommen. Aber ich starrte sie eiskalt an, um ihr klarzumachen, dass ich hart bleiben würde. Wenn sie zu sehr drängte, würde sie sich vor einem wildfremden Menschen lächerlich machen, also schwieg sie und warf mir einen berechnenden Blick zu. »Na gut«, sagte sie. »Dann kann sie uns ja helfen, den Essigwein zu tragen.«
    »Amanda weiß, wie man Sachen klaut«, sagte ich zu Bernice auf dem Weg zurück zur Wellness-Klinik. Es war eigentlich als Friedensangebot gedacht, aber Bernice grunzte nur.
     
    16.
     
    Mir war klar, dass ich Amanda nicht wie ein streunendes Kätzchen mit nach Hause nehmen konnte: Lucerne würde sagen, ich solle sie dahin zurückbringen, wo ich sie gefunden hätte, denn Amanda war eine Plebsratte, und Lucerne hasste Plebsratten. Sie hielt sie allesamt für verkommen, für Diebe und Lügner, und wenn ein Kind erst mal verkommen war, war es wie ein Wildhund, unerziehbar und ewig unaufrichtig. Wegen der Plebsrattengangs, die einen in Massen überfallen und sich mit allem Greifbaren davonmachen konnten, wagte sie sich kaum von einem Gärtnerhaus zum anderen. Sie hatte nie gelernt, einen Stein zu nehmen, zurückzuschlagen und zu schreien. Das lag an ihrem früheren Leben. Sie ist ein Treibhausgewächs, sagte Zeb. Früher dachte ich immer, das sei ein Kompliment, wegen
Gewächs
.
    Sie würden Amanda also wieder wegschicken, es sei denn, ich würde mir vorher die Erlaubnis von Adam Eins holen. Er freute sich immer riesig über Neuankömmlinge, vor allem jüngere − er redete ständig von der Verpflichtung der Gärtner, die Seelen der jungen Leute zu formen. Wenn er bereit war, Amanda aufzunehmen, konnte Lucerne nichts dagegen sagen.
    Wir fanden Adam Eins in der Wellness-Klinik beim Essigeinfüllen. Ich erklärte ihm, ich hätte Amanda gefunden − »aufgelesen«, sagte ich − und dass sie gern zu uns kommen würde, weil sie das Licht gesehen habe, und ob sie bei mir zu Hause wohnen dürfe?
    »Ist das wahr, mein

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