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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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diesem gewissen Glitzern in den Augen, das man allzu leicht für Liebe hätte halten können, schon widerstehen können?, dachte Toby. Auch für Zeb muss eine attraktive Frau im rosa Kimono, im locker gebundenen rosa Kimono, auf einer Wiese im schimmernden Sonnenaufgang, dazu noch mit tränennassem Gesicht, einen gewissen Reiz ausgeübt haben. Denn Lucerne war attraktiv. Rein optisch war sie sehr attraktiv. Sogar in klagendem Zustand, wie Toby sie meist erlebte.
    Lucerne schwebte also über den Rasen, im Bewusstsein ihrer bloßen Füße auf dem kühlen, feuchten Gras, im Bewusstsein des raschelnden Stoffs über ihren Oberschenkeln, im Bewusstsein der Enge um die Taille und Lockerheit unter dem Schlüsselbein. Gebauscht wie die Brandung. Sie war vor Zeb stehen geblieben, der sie auf sich zukommen sah, als wäre er ein versehentlich ins Meer geworfener Seemann und sie eine Nixe oder ein Hai. (Diese Bilder stammten von Toby: Lucerne sprach lediglich von Schicksal) Sie seien einfach beide so im Bewusstsein dessen gewesen, erzählte sie Toby; schon immer war sie sich anderer Menschen Bewusstsein so bewusst gewesen, sie war wie eine Katze oder, oder … sie hatte immer schon diese Gabe besessen, oder war es ein Fluch − auf jeden Fall war ihr gleich alles klar gewesen. Ihr war klar, was Zeb in seinem Inneren fühlte, als er sie erblickte. Einfach überwältigend!
    Man könne das gar nicht in Worte fassen, sagte sie, als wäre es undenkbar, dass Toby je etwas Vergleichbares hätte widerfahren sein können.
    Jedenfalls, da standen sie nun, wobei sie ja schon wusste, was als Nächstes passieren würde − was passieren musste. Angst und Lust drängten sie gleichermaßen zueinander und auseinander.
    Lucerne sprach nicht von Lust. Sie sprach von Sehnsucht.
    An diesem Punkt musste Toby immer an die Salz-und Pfefferstreuer denken, die vor langer, langer Zeit bei ihren Eltern zu Hause auf dem Küchentisch standen: Henne und Hahn aus Porzellan. In der Henne war Salz, im Hahn war Pfeffer. Die salzige Lucerne stand also vor dem pfeffrigen Zeb, der lächelnd zu ihr hochsah, und sie hatte ihm irgendeine simple Frage gestellt − wie viele Rosensträucher es insgesamt wären oder so ähnlich, sie wusste es nicht mehr genau, so betört war sie von Zebs … (Hier schaltete Tony ab, denn von Zebs Bizeps, Trizeps und anderen muskulösen Attraktionen wollte sie nichts wissen. War sie selbst dagegen immun? Nein. War sie also eifersüchtig auf diesen Teil der Geschichte? Ja. Wir müssen immer achtsam sein und uns unserer animalischen Neigungen und Befangenheiten bewusst sein, sagte Adam Eins.)
    Und dann, sagte Lucerne und holte Toby in die Geschichte zurück, geschah etwas Seltsames: Sie erkannte Zeb wieder.
    »Ich hab Sie schon mal gesehen«, sagte sie. »Waren Sie nicht mal bei HelthWyzer? Aber Sie haben damals nicht im Park gearbeitet. Sie waren …«
    »Das muss ’ne Verwechslung sein«, sagte Zeb. Und dann hatte er sie geküsst. Der Kuss fuhr ihr durch Mark und Bein wie ein Messer, und sie ließ sich in seine Arme fallen wie − wie ein toter Fisch − nein − wie ein Petticoat − nein − wie ein feuchtes Papiertaschentuch! Und dann hatte er sie hochgehoben und auf den Rasen gebettet, an Ort und Stelle, wo alle sie hätten sehen können, was unglaublich aufregend war, und dann hatte er ihren Kimono geöffnet und die Rosen vom Strauch in seiner Hand gezupft und sie von Kopf bis Fuß mit Blüten bestreut, und dann waren sie beide … Es war wie ein Frontalzusammenstoß, sagte Lucerne, und sie hatte damals gedacht, wie soll ich das nur überleben, ich sterbe hier und jetzt! Und ihr war klar, dass es ihm genauso ging.
    Später − sehr viel später sogar, als sie schon zusammenlebten − sagte er zu ihr, sie habe recht gehabt. Ja, er war bei HelthWyzer gewesen, aber aus Gründen, die er nicht weiter vertiefen wolle, habe er sehr schnell von dort verschwinden müssen und er verlasse sich auf sie, dass sie niemandem gegenüber etwas von dieser Zeit und seinem früheren Aufenthaltsort erwähne. Was sie auch nicht getan hatte. Zumindest bis jetzt.
    *
    Damals aber während ihres Spa-Aufenthalts − Gott sei Dank hatte sie sich keiner Schälkur unterzogen, nur einer kleinen Restauration − hatten sie noch das ein oder andere Appetithäppchen voneinander genießen können, in einer Duschkabine in der Umkleide des Swimmingpools, und ab da klebte sie an Zeb wie ein nasses Blatt. Und umgekehrt, fügte sie hinzu. Sie konnten einfach nicht

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