Das Jahr der Flut
noch verbiegen noch mit Pestiziden besprüht werden, vorausgesetzt, sie haben das Glück, weit genug weg von den Feldern der Agri-Firmen zu wachsen. Er kannte die Heilmittel des Wegesrands: die Rinde der Weide gegen Schmerzen und Fieber, die Wurzel des Löwenzahns als Diuretikum gegen Wasser im Körper. Er lehrte uns, nichts zu verschwenden, nicht einmal die niedere Nessel, eine Quelle vieler Vitamine, die allzu oft gejätet und beseitigt wird. Er lehrte uns zu improvisieren; denn wo sich kein Sauerampfer findet, da wächst vielleicht Rohrkolben; und anstelle von Blaubeeren könnte womöglich die Wildpreiselbeere gedeihen.
Heiliger Euell, gestatte uns im Geiste einen Platz an deinem Tisch, jener bescheidenen Plane auf der Erde; und lass uns mit dir wilde Erdbeeren speisen und im Frühling junge Farnspitzen und blanchierte Seidenpflanzenhülsen mit einem Stückchen Butterersatz, falls vorhanden.
Und lehre uns in Zeiten größter Not zu akzeptieren, was uns das Schicksal bringen mag; und flüstere uns in unser spirituelles Ohr die Namen der Pflanzen ein und ihre Jahreszeiten und den Ort, an dem sie wachsen.
Denn die wasserlose Flut wird kommen, und alles Kaufen und Verkaufen wird ein Ende haben, und wir werden zurückgeworfen sein auf unsere eigenen Ressourcen inmitten von Gottes üppigem Garten. Der auch euer Garten war. Lasst uns singen.
LOBPREIST DIE HEILIGEN KRÄUTER
Lobpreist die heiligen Kräuter auf
Den Feldern und im Graben:
Sie speisen die Bedürftigen,
Die gar zu wenig haben.
In Supermärkten und Passagen
Kauft man sie mitnichten;
Als Armeleuteessen
Böse Zungen sie bezichtigen.
Im Frühling sprießt der Löwenzahn,
Bevor die Blüte platzt;
Im Juni schmeckt die Klettenwurzel,
Wenn sie steht im Saft.
Im Herbst sind alle Eicheln reif,
Die Walnuss wird geknackt.
Die Seidenpflanze, kurz blanchiert,
Ist köstlich von Geschmack.
Vitamin C − ein Lieferant
Sind Birken wie auch Fichten.
Doch lasst genügend Rinde stehen,
Den Baum nicht zu vernichten!
Portulak, Sumach, Sauerampfer,
Weißdorn, Gänsefuß –
Die Beeren sind gesund und auch
Geschmacklich ein Genuss.
Die Kräuter wachsen üppig
Und erblühen in prächtigen Farben –
Gott selbst hat sie für uns gepflanzt,
Damit wir niemals darben.
Aus dem
Gesangbuch der Gottesgärtner
24.
Ren. Jahr Fünfundzwanzig
Ich weiß noch, was es zu essen gab an dem Abend damals in der Klebezone: Chickie-Knollen. Seit meiner Gärtnerzeit konnte ich eigentlich kein Fleisch essen, aber Mordis sagte, Chickie-Knollen seien eigentlich eher ein Gemüse, weil sie am Stiel wachsen und keine Gesichter haben. Also aß ich davon eine halbe Portion.
Dann tanzte ich eine Runde, um nicht aus der Übung zu kommen. Ich hatte mein See/H/Öhr-LekkerBit und sang mit. Adam Eins sagte immer, Gott habe die Musik in uns eingepflanzt: Wir könnten singen wie die Vögel, aber auch wie die Engel, denn Singen sei eine Form des Lobpreisens, die aus tieferen Schichten komme als das Sprechen, und Gott könne uns beim Singen besser hören. Daran versuche ich immer zu denken.
*
Dann schaltete ich mal wieder in die Schlangengrube rein. In der Schlangengrube waren drei Painball-Typen, die gerade entlassen worden waren. Man erkannte sie immer sofort, weil sie frisch rasiert waren, frisch vom Friseur kamen und neue Klamotten anhatten und diesen geflashten Blick hatten, als wären sie lange Zeit in einem dunklen Schrank eingesperrt gewesen. Außerdem hatten sie ein kleines Tattoo am linken Daumenansatz – einen runden Kreis in Rot oder Hellgelb, je nachdem, ob sie in der roten oder in der goldenen Mannschaft waren. Die anderen Kunden wichen etwas vor ihnen zurück, um Platz zu machen, aber aus Ehrfurcht – als wären sie keine Painball-Verbrecher, sondern Internetstars oder Spitzensportler. Viele reiche Typen stellten sich vor, Painballer zu sein. Sie setzten auch Geld auf die Mannschaften: Rot gegen Gold. Über Painball wechselte sehr viel Geld den Besitzer.
Es gab immer zwei oder drei CorpSeCorps-Typen als Betreuer für die Painball-Veteranen – weil die jederzeit ausrasten und jede Menge Schaden anrichten konnten. Wir Scales-Mädchen durften auf keinen Fall mit ihnen allein sein: Sie waren nicht mehr in der Lage, zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden, sie wussten nie, wann Schluss war, und sie konnten sehr viel mehr kaputtmachen als nur Möbel. Man musste sie besoffen machen, aber möglichst schnell, bevor sie
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