Das Jahr der Flut
Schachspiel gehörte Pilar; schwarz waren Ameisen, weiß waren Bienen; das Spiel war selbstgeschnitzt.
»Früher glaubte man, die Bienenkönigin sei ein König«, sagte Pilar. »Denn wenn man diese Biene tötete, hatten die anderen keine Daseinsberechtigung mehr. Das ist auch der Grund, weshalb sich beim Schach der König auf dem Brett so wenig bewegt − weil die Bienenkönigin immer im Bienenstock bleibt.«
Toby konnte das nicht ganz glauben: Saß die Bienenkönigin wirklich immer nur in ihrem Bienenstock? Außer natürlich zum Ausschwärmen und für den Hochzeitsflug … Sie starrte auf das Brett, versuchte die Struktur zu erkennen. Draußen erklang Nualas Stimme und das Plappern der kleineren Kinder.
»Die fünf Sinne, durch die wir die Welt erfahren, sind Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken … Was benutze ich zum Schmecken? Richtig … Oates, du musst Melissa nicht jetzt ablecken. So, jetzt alle mal wieder rein mit den Zungen, zurück in den Kasten und Klappe zu.« Ein Bild erschien vor Tobys innerem Auge − nein, ein Geschmack. Sie konnte Zebs Arm schmecken, das Salz auf seiner Haut .
»Schachmatt«, sagte Zeb. »Die Ameisen haben mal wieder gewonnen.« Zeb spielte immer Ameisen, um Toby einen Startvorteil zu geben.
»Ach so«, sagte Toby. »Habe ich gar nicht gesehen.« Jetzt fragte sie sich − unwürdigerweise −, ob da irgendetwas lief zwischen Nua-la und Zeb. Nuala war überspannt, aber sinnlich und seltsam naiv dabei. Manche Männer sprachen ja auf so etwas an. Zeb fegte die Figuren vom Brett und stellte sie wieder auf.
»Tust du mir einen Gefallen?«, sagte er. Er wartete nicht auf ein Ja. Lucerne klage andauernd über Kopfschmerzen, sagte er. Seine Stimme war sachlich, aber sie hatte einen scharfen Unterton, aus dem Toby schließen musste, dass die Kopfschmerzen womöglich nicht echt waren, oder wenn doch, dann ermüdend für Zeb.
Ob Toby bei Lucernes nächstem Migräneanfall mit ein paar Arzneien vorbeischauen könne, um zu sehen, was sich machen lasse? Denn was könne er schon gegen Lucernes Hormonschwankungen tun, wenn das das Problem sei. »Ständig liegt sie mir in den Ohren«, sagte er. »Weil ich zu oft weg bin. Eifersüchtig.« Er grinste wie ein Hai. »Vielleicht kannst du sie zur Vernunft bringen.«
So ist das also. Der erste Frühling ist vorbei, dachte Toby. Und Lucerne findet das gar nicht gut.
22.
Sankt Allan Sparrow, Schutzpatron der sauberen Luft: Ein Tag, der bislang seinem Namen noch keine Ehre gemacht hatte. Toby bahnte sich ihren Weg durch die überfüllten Plebsstraßen, die Tasche mit den Trockenkräutern und Arzneiflaschen gut versteckt unter einem schlabbrigen Overall. Das Nachmittagsgewitter hatte die abgas-und feinstaubgeschwängerte Luft zwar etwas gereinigt, dennoch trug sie zu Ehren des heiligen Sparrow einen schwarzen Nasenhut. Wie es Brauch war.
Seit Blanco im Painball saß, fühlte sie sich sicherer auf den Straßen; dennoch schlenderte oder trödelte sie nie, rannte, Zebs Anweisungen folgend, aber auch nicht. Das Beste war, zielstrebig auszusehen, als hätte man etwas Wichtiges zu erledigen. Sie ignorierte die Blicke der Passanten und die gärtnerfeindlichen Bemerkungen, hielt jedoch nach abrupten Bewegungen und Annäherungen die Augen offen. Einmal hatte sich eine Plebsrattengang ihre Pilze geschnappt; deren Glück, dass zufällig keine giftigen darunter waren.
Sie war unterwegs zur Käsefabrik, um Zebs Bitte nachzukommen. Es war bereits das dritte Mal. Wenn Lucernes Kopfschmerzen echt waren und sie damit nicht nur auf sich aufmerksam machen wollte, hätte eines der handelsüblichen stärkeren Schmerz-beziehungsweise Schlafmittel von HelthWyzer das Problem gelöst, indem es sie entweder geheilt oder umgebracht hätte. Aber Konzernpillen waren ja bei den Gärtnern tabu, also griff sie zu Weidenextrakt, dann zu Baldrian mit etwas Schlafmohn; aber nicht zu viel, da man abhängig werden konnte.
»Was ist denn hier drin?«, fragte Lucerne jedes Mal während Tobys Behandlung. »Bei Pilar schmeckt’s immer viel besser.«
Toby verschwieg ihr, dass das Medikament tatsächlich von Pilar stammte, und drängte Lucerne, ihre Dosis einzunehmen. Dann machte sie ihr einen kalten Stirnwickel, setzte sich zu ihr ans Bett und gab sich alle Mühe, Lucernes Klagen auszublenden.
Von den Gärtnern wurde erwartet, dass sie ihre persönlichen Probleme für sich behielten: Den eigenen Psychoabfall auf andere abzuladen war verpönt. Um vom Leben zu trinken,
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